Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
Vom Netzwerk:
Stimme einer älteren Frau.
    »Wer ist da?«
    Ich stieg rasch ein paar Stufen hinauf. Die Frau sah mich argwöhnisch an, die Tür war mit einer Kette gesichert.
    »Guten Tag!«, sagte ich hastig. »Ich möchte zu Tanja. Tatjana … Den Vatersnamen kenne ich nicht. Den Familiennamen auch nicht. Aber sie wohnt hier! In dieser Wohnung! Sie hat mir die Adresse gegeben.«
    »Sie irren sich«, sagte die Frau. »Hier wohnt keine Tanja. Hat auch nie. Es sei denn vor dem Krieg.«
    »Ach was, vor dem Krieg!« Am liebsten hätte ich die Tür aufgestoßen, die Kette herausgerissen, diese Alte zur Seite geschleudert und eine Haussuchung vorgenommen. »Gleich! Hier!« Ich holte ein Foto hervor. »Bitte!«
    Sie betrachtete das Foto, dann richtete sie den Blick auf mich. Ihre Oberlippe mit langen grauen Härchen schob sich nach oben und entblößte das makellose Weiß einer Zahnprothese.
    »Ich muss Sie enttäuschen.« Ihr Gesicht legte sich in Falten, das Kinn spitzte sich zu, die Augen leuchteten lächelnd auf. »Ich kenne alle, die in diesem Haus wohnen. Hier wohnt so eine Tanja nicht!«
    Die Wohnungstür fiel krachend ins Schloss.
    »He! Hehe!« Ich donnerte mit der Faust gegen die Tür, langte nach der Klingel, das Foto fiel mir aus der Hand und zu Boden, ich beugte mich hinunter.
    Nein, so eine Tanja konnte es in dieser Wohnung, in diesem Haus nicht geben: Ich hatte die Aufnahme gemacht, als Tanja nach dem Baden aus dem Wasser gestiegen war, bloß mit einem durchsichtigen knappen Slip bekleidet. Der Glanz des kräftigen nassen Körpers. Der Sonnenschein spielt auf ihren abstehenden aggressiven Brüsten. Eine feuchtschwere Haarsträhne fällt quer über das lächelnde, freudestrahlende Gesicht.
     
    Meine Gabe war vergleichbar mit der Unsterblichkeit.
    Es wäre interessant, den Versuch zu machen, ewig zu leben, mehr aber nicht. Letzten Endes stellt sich ja zwangsläufig die Frage – neben einer anderen, nicht minder wichtigen: »Wo wird sich die Unsterblichkeit vollziehen?« –, die ebenfalls imstande ist, die sorgloseste Existenz zu vergiften, mochte sie auch von Ewigkeit sein: »Was soll man eigentlich mit der Unsterblichkeit anfangen, wie das Beste aus ihr machen?«
    Wie man es auch dreht und wendet, eine vollgültige Antwort auf diese verfluchten Fragen ist nicht zu finden.
    Scheinbar höchst einfache Fragen. Wie, worauf die Unsterblichkeit verwenden – und wo? Schön, lassen wir den Aufenthaltsort des Unsterblichen beiseite, aber um die Unsterblichkeit nutzbar zu machen, braucht man zumindest ein klares, realisierbares Ziel. Anders gesagt – es gilt, eine grenzenlose Befähigung auf etwas Konkretes und Endliches auszurichten. An eine ganz bestimmte Handlungsweise zu binden.
    Und damit zu entwerten. Womöglich zu vernichten. Vielleicht nur die Befähigung, vielleicht aber mit ihr auch den Träger. Eine solche Nutzung der Unsterblichkeit setzt ihr notwendigerweise Grenzen. Macht aus ihr beschwerlichen Zeitvertreib!
     
    Tanja bemerkte ich sofort, kaum dass ich in den Hof hineinfuhr. Sie saß auf der Bank, die der massakrierte Ruheständler so gemocht hatte, sie saß aufrecht, die Knie dicht beieinander, die Hände auf die Handtasche gelegt. Ich stellte das Auto ab und ging zu ihr. Als sie mich kommen sah, stand sie auf.
    »Was ist passiert?«, fragte sie und bot mir die Lippen zum Kuss dar. »Neue Schlösser. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, ich habe angerufen …«
    Ich küsste sie und fragte:
    »Bei wem?«
    »Bei deinem Agenten, diesem Kulagin. Ich dachte, der weiß Bescheid, doch er …«
    »Er weiß nichts!«
    Wir machten den Schlosser ausfindig, ich ließ mir die Schlüssel geben und öffnete die Tür. Ja, in meinem Studio herrschte totales Chaos, eine ungeheure Aufräumarbeit stand mir bevor.
    Ich zog eine alte Jeans an, suchte mir ein abgetragenes Hemd, krempelte die Ärmel auf. Tanja nahm inzwischen das Studio in Augenschein und hätte sich beim Anblick der eingetrockneten Blutlache in der Küche fast übergeben.
    »Wer war das?«, erkundigte sie sich.
    »Ein Nachbar. Anscheinend wollte er sich einiges unter den Nagel reißen«, erwiderte ich, zog die Gardinen auf und öffnete die Fenster. »Wie hast du erfahren, dass hier etwas passiert ist?«, fragte ich, mich wieder ihr zuwendend.
    »Ich habe angerufen, niemand ist rangegangen. Der Anrufbeantworter schaltete sich nicht ein. Da habe ich mir gedacht, dass etwas passiert sein muss.«
    »Oder dass ich beschlossen habe, mich vor dir zu

Weitere Kostenlose Bücher