Der Retuscheur
verstecken!«
»Oder das.« Sie lächelte. »Aber das hast du ja nicht! Oder täusche ich mich?«
Ich griff zu Besen und Kehrschaufel und begann die Glassplitter zusammenzufegen: Der Schlosser hatte natürlich gar nicht daran gedacht, sie zu entfernen, genauso wenig wie die Blutflecken.
Mit vereinten Kräften schafften wir Ordnung, und dann brachte ich den Müll weg. Auf dem Weg zu den Mülltonnen verhielt ich den Schritt, blieb stehen, drehte mich um: Sie stand am Fenster und betrachtete mich.
Ja, schon da gefiel mir ihr Blick nicht.
Dreizehntes Kapitel
Hat man erkannt, dass eine Gabe wie die meinige kein Märchen, sondern etwas ganz Reales ist und voll genutzt wird, wäre es sinnlos, so zu tun, als sei nichts geschehen. Dumm wäre es, der Alte bleiben zu wollen, was auch unmöglich ist.
Alles beginnt man mit verändertem Blick zu betrachten. Auf neue Weise stellen sich sowohl lange, sehr lange zurückliegende Ereignisse dar als auch Themen, die einem bisher völlig verschlossen geblieben sind. Dumm wäre es, so zu leben und sich verhalten zu wollen, wie man bisher gelebt und sich verhalten hat. Das bisherige Leben erscheint schlechtweg als Verrat an dieser Gabe.
Deshalb wäre es für einen Menschen wie mich, dem eine Gabe zuteilgeworden ist, ebenso dumm, sich rechtfertigen und erklären zu wollen, dass er keine Schuld habe, dass er missbraucht worden sei. Geködert, missbraucht werden die Unbegabten. Die Nichtskönner. Die Durchschnittsmenschen. Die Begabten müssen alles absehen können, für alles geradestehen. Sie dürfen nicht auf andere Leute, auf irgendwelche Umstände verweisen. Sie haben selbst für alles einzustehen.
Und wenn es doch passiert, dass man sie um den Finger wickelt, hinters Licht führt, dann müssen sie sich auf ganz andere Weise ihrer Verantwortung stellen als alle Übrigen. Sie haben die Verantwortung in vollem Umfang zu tragen. Dabei gibt es allerdings eine charakteristische Besonderheit: Sie müssen sich ihrer Gabe entsprechend selbst nach ihrer Verantwortung fragen, sie müssen selbst über sich richten. Alles verhält sich doch ganz einfach: Das Gericht der Durchschnittsmenschen hat schon deswegen keine Gewalt über sie, weil die Richter niemals in der Lage sein werden, nachzuprüfen, ob sie wirklich über eine besondere Gabe verfügen. Die Richter werden, ausgehend von ihren, den gewöhnlichen Gesetzen, anfangen, ihnen Paragraphen anzuhängen, Vorbeugungsmaßnahmen und Strafen festzulegen. Gewöhnliche Gesetze indessen greifen hier nicht. Sie gehören in eine andere Welt.
Hier hängt alles von dem ab, der die Gabe besitzt. Davon, wie er sich zu ihr stellt. Eine Sache ist es, wenn er seine Gabe als etwas Selbstverständliches auffasst, eine ganz andere, wenn er darin irgendeine Schuld, sagen wir, seine eigene, erkennt.
Die Gabe existiert natürlich vor ihrem Träger.
Mehr noch! Alle Begabungen gab es schon, als von ihren potenziellen Trägern überhaupt noch keine Rede war. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Träger alles damit abtun kann, dass er von nichts wisse: Die Gabe ist mir ungewollt, ohne mein Wissen zugekommen. Ich kann für nichts.
Das stimmt schon, doch das ist nur die eine Seite. Die andere sieht ganz anders aus. Nämlich so, dass allein du als Träger dieser Gabe ein ihr angemessenes Urteil über dich fällen und je nachdem, wie die Waage ausschlägt, entscheiden kannst, was mit dir zu geschehen hat.
Als ich über all das nachdachte, benahm es mir regelrecht den Atem. Davon, dass mein US-Bürger gewordenes Kind in Zukunft – wenn nicht heute schon – zum Erben meiner Gabe werden kann, rede ich erst gar nicht.
Höchstwahrscheinlich werde ich mein Kind nie zu sehen bekommen, nie erfahren, was es aus seiner Gabe macht. Ich habe darüber nachgegrübelt, wie viele es sein mögen, die ich, ohne es zu wissen, noch bevor ich anfing, gewisse Merkwürdigkeiten zu registrieren, mit einer einzigen leichten Bewegung des Schabers vom Negativ getilgt und damit ihren Tod besiegelt habe.
Ich habe sogar eine große Leichtigkeit und Freiheit verspürt. Mir wurde bewusst, dass in meiner einzigartigen Fähigkeit ein riesiger Nutzen, ein riesiger Vorteil liegt. Zumindest hier, auf dieser Hemisphäre, stehe ich allein da, und ich kann mit mir alles machen, was ich will. Und weiter habe ich mir überlegt, dass ich auch mit den anderen alles machen kann, was ich will.
Das war keine Empfindung von Leichtigkeit, von Freiheit mehr, sondern etwas Tönendes.
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