Der Retuscheur
hinsetzte. »Schade! Ich hatte gehofft, mich mit ihm verständigen zu können. Also hat er beschlossen, keine Kompromisse einzugehen. Gut, umso schlimmer für ihn.«
»Von welchem Wolochow? Von …« – ich stockte – »unserem?«
»Von unserem, Genka, von unserem! Hast du ihn lange nicht gesehen?«
»Zwei, drei Jahre. Gibt es zwischen euch gemeinsame Interessen? Mischt er auch in der Politik mit? Das wusste ich nicht. Erklär es mir …«
Bai schlug die Beine übereinander. Es war, als sähe er durch mich hindurch. Er kaute an seinen Lippen. Die Tür knarrte – das Zimmer betrat einer der Leibwächter mit dem Hörer eines schnurlosen Telefons.
»Wer?«, fragte Bai.
»Der Kommissionsvorsitzende«, erwiderte der Wachmann und reichte ihm den Hörer.
»Ja, ich höre«, sagte Bai in das Mikrofon, bevor er es mit der Hand abdeckte und mir zuzischte:
»Geh, geh! Morgen früh, wir fahren zeitig los. Um sechs!«
Der Leibwächter berührte meinen Ellbogen. Beim Hinausgehen, schon im Korridor, an der Wohnungstür, vernahm ich Bais Worte:
»Ich werde nach der Rückkehr von meiner Reise bei der Anhörung sprechen! Nicht früher und nicht später!«
Der Wachmann öffnete die Tür, ich trat ins Treppenhaus. Das Kognakglas in der Hand. Und mit dem Gefühl, ein Vollidiot zu sein.
Ich glaube, Lisa spürte die von meinem Vater ausgehende Gefahr. Wenn sie ihn traf – im Hof, auf der Straße, auf dem Heimweg von der Schule –, zuckte sie zusammen und zog den Kopf ein. Das war mehr als bloße Angst vor dem strengen Vater ihres Freundes, der nicht guthieß, dass wir uns trafen. Sie konnte von seinen Fähigkeiten, seiner Gabe nichts ahnen, sich deren Tragweite nicht vorstellen. Doch zu vermuten, dass mein Vater über eine mystische Fähigkeit verfügte, dürfte ihr nicht so schwergefallen sein.
Einmal klingelte sie an unserer Wohnungstür wie ausgemacht – kurz, lang, sehr kurz – und setzte sich aufs Fensterbrett, um darauf zu warten, dass ich herauskam. Ich war praktisch fertig, musste nur noch meine Schuhe anziehen, doch mein Vater, der sich im Badezimmer rasierte, folgte mir auf den Treppenabsatz. In seinem langen dunkelblauen seidenen Morgenmantel, ein chinesisches Frotteehandtuch um den Hals – er band sich beim Rasieren immer ein Handtuch um.
»Wann wirst du zurück sein?«, rief mir mein Vater nach.
Lisa sah er nicht: Sie war eine Art Nebelfleck, irgendwo da unten.
»Bald!«, rief ich im Laufen, und ich erinnere mich, wie betroffen mich, schon im Hof, Lisas Gesichtsausdruck machte.
»Dein Vater ist ein Hexenmeister!«, sagte sie.
»Er ist ein guter Mensch!«, schwindelte ich.
Sie glaubte mir natürlich nicht.
Selbst wenn ich genau wusste, dass noch viel Zeit blieb, bis mein Vater nach Hause kam, wollte Lisa nicht mit zu uns in die Wohnung.
»Und wenn er eher kommt?«, fragte sie.
Ich erklärte ihr, dass mein Vater eine sehr strenge Arbeitszeitregelung habe, dass er nicht eher weg könne, selbst wenn er irgendwo außerhalb Aufnahmen mache, müsse er wieder in den Dienst zurückkehren.
»Nein«, sagte sie, »er wird erfahren, dass ich bei euch war. Oder er kommt, wenn ich noch bei euch bin. Er ist ein Hexenmeister!«
Wir küssten uns selbstvergessen in Hauseingängen, in Grünanlagen. Wir – sie warf dazu ihre Hausschuhe ab, ich war ohnehin in Socken – streichelten uns mit den Zehen, wenn wir am großen Tisch bei ihr zu Hause saßen, im Zimmer einer Gemeinschaftswohnung.
In uns sammelte sich Kraft, die danach verlangte, sich zu entladen.
Nicht dass Lisa den Kopf verloren hätte, als sie sich doch bereitfand, die Schwelle unserer Wohnung zu überschreiten. Sie war es müde geworden, ihrer Angst zu widerstehen. Bei uns zeigte sie sich – bis die Kraft richtig aufwallte – viel zurückhaltender als spätabends im Treppenhaus oder in der Grünanlage, wo wir uns im tief herabhängenden geplünderten Fliedergezweig und zwischen den Spuren des verfliegenden Frühlingsduftes versteckten.
Sie huschte rasch durch das große Zimmer, wobei sie sich furchtsam nach der geschlossenen Tür zum Zimmer meines Vaters umsah. In meinem Zimmer setzte sie sich auf den Stuhl am Fenster, drückte die Knie zusammen, zog den Rock straff und legte die Hände auf die Schenkel. Ich kam mit zwei Wurstbroten herein.
»Soll ich Tee aufsetzen?«, fragte ich heiser, während ich das eine belegte Brot Lisa reichte.
Sie gab keine Antwort, nahm das Brot und biss kräftig mit ihren kleinen Zähnen hinein, die einer wie der
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