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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Jenseitiges.
     
    Ich warf einen Blick auf mein im Schlafzimmer hängendes Foto, das mir sehr gefiel: Ich stehe auf ein »Linhof«-Stativ gestützt, in einem über der Hose getragenen Hemd mit offenem Kragen, um den Hals einen Belichtungsmesser, im Spiegel hinter mir ein entblößtes Modell, Dreiviertelprofil. Auf dieses Foto war ich stolz – wie auch nicht, so ein klasse Selbstporträt!
    Ich sah die übrig gebliebenen Negative durch, fand aber mein Selbstporträt nicht darunter. In dem Bestreben, meinem Schicksal zu entgehen, hatte ich alles weggeworfen. Nur ein paar waren noch da, die neuesten: Tanja, Tanja und wieder Tanja. Ich öffnete den Panzerschrank, und hier fand sich das Gesuchte, im Innenfach, in einem Kuvert mit den kostbarsten Negativen, das von denen, die in meinem Studio wie die Vandalen gehaust hatten, nicht entdeckt worden war. Dieses Negativ lag separat in einem halb durchsichtigen Kuvert. In der Ecke – Datum und Uhrzeit.
    Ich nahm es aus dem Kuvert, befestigte es am Retuschiergerät, schaltete das Unterlicht ein. Bitte schön! Das Gericht hat seine Plätze eingenommen, Rechts- und Staatsanwalt wurden, da nicht gebraucht, vom Prozess ausgeschlossen, Aufstehen muss nicht sein. Für die Verkündung und Vollstreckung des Urteils ist nur eine Bewegung nötig. Hauptsache, nicht zagen!
     
    Ich warte schon über eine Stunde. Allmählich befällt mich Angst – sie wird nicht kommen. In der Tat – was will sie noch mit mir? Sie braucht mich absolut nicht mehr. Die Hoffnung, die ich hegte – dass sie herkommen würde, um sich Gewissheit zu verschaffen –, schwindet von Minute zu Minute. Kontrolle hat sie nicht nötig. Sie braucht nur den Fernseher einzuschalten oder die Abendzeitung aufzuschlagen.
    Trotzdem, sie muss kommen.
    Und sie wird allein kommen. Es kann nicht sein, dass es ihr nicht aufgegangen ist: Sie braucht keine Bewachung mehr, ihr droht nichts mehr. Ihr hat auch gar nichts gedroht. Allenfalls Entlarvung, obwohl es bei ihr nur eines zu entlarven gibt: Wie ich meine Gabe, so hat sie zugelassen, dass andere sich ihre Lebensgeschichte zunutze gemacht haben. Das ist eine ernste Fehlleistung, aber nicht so schlimm, dass sie mit aller Strenge bestraft werden müsste. Sie verdient Vergebung. Sie ist benutzt worden. Sie wird kommen, um Verzeihung zu erbitten. Ich werde ihr verzeihen.
    Auf meinem Arbeitstisch steht ein leichtes Abendessen bereit. Eine Flasche Wein, Konfekt, Obst. Sie hat gestanden, dass sie am liebsten Äpfel mag. Wie Lisa. Und zwar säuerliche, noch nicht ganz reife Äpfel. Eine erstaunliche Geschmacksübereinstimmung!
    Ich trete zum Tisch, nehme einen Apfel, beiße hinein. Auf dem Apfel bleibt eine kaum erkennbare blassrosa Blutspur zurück. Was ist das – einfaches Zahnfleischbluten, oder hat, seitdem das Urteil gefällt ist, die Uhr angefangen zu ticken? Ich kaue den Apfel, die Säure zieht mir den Mund zusammen, aber ich beiße ein neues Stückchen ab. Es scheint stärker zu bluten.
    Ich lege den Apfel auf den Tisch, gehe zum Spiegel, öffne den Mund, befühle mit dem Finger meine Zähne. Sie wackeln nicht, am Zahnfleisch ist nichts festzustellen, keine Entzündung, keine Fistel. Ich halte das Gesicht dichter an den Spiegel heran, ziehe die Unterlider zurück, strecke die Zunge weit heraus. So was von Visage!
    Nein, vorläufig ist alles in Ordnung bei mir. Keinerlei beunruhigende Symptome. Mir tut nichts weh. Trotz der schlaflosen Nacht spüre ich keine Schwere im Hinterkopf, keinen Druck in den Schläfen, das Herz – ich lege die Hand darauf – arbeitet gleichmäßig. Ein bisschen sticht es in der Leber, aber das habe ich schon sehr lange. Eine Folge dessen, dass ich trinke, mit mir allein. Verstärkt durch sinnloses Grübeln und Selbstquälerei. Nein, bei mir ist wirklich alles vollkommen in Ordnung!
     
    Ich zünde mir eine Zigarette an. Den Tabakgeschmack mag ich mehr denn je zuvor. Ich öffne den Küchenschrank, nehme eine Kognakflasche heraus, gieße etwas in ein Glas. Trinke. Der Kognak schmeckt mir auch. Allerdings brennt er etwas am Zahnfleisch. Desinfektion kann nicht schaden.
    Zum Tisch im Studio zurückgekehrt, greife ich nach dem liegen gelassenen Apfel und beiße wieder hinein. Keine Spur von Blut, keinerlei krankhaftes Empfinden! Ist es möglich, dass sich meine Gabe nur gegen andere richten kann? Natürlich! Dass ich nicht eher draufgekommen bin!
    Bei diesem Gedanken muss ich lachen: Also war das dummes Zeug, ich habe mir weiß der Teufel was ausgedacht.

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