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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Und das nur, um mich selbst zu bemitleiden!
    Ich drücke die Zigarette im Aschenbecher aus und blicke auf die Uhr. Sollte sie doch nicht kommen? Das kann nicht sein! Dann werde ich zu ihr gehen. Ich werde sie schon finden, und wenn ich sie unter dem Erdboden hervorholen muss, sie und ihre Freunde, denen sie sich zur Verfügung gestellt hat. Ich lasse keine Späße mit mir treiben!
    Hinter mir ist ein leichtes Schnappgeräusch zu hören, und ich wende mich jäh um. In mein Studio treten nacheinander drei Leute. Als Erster ein breitschultriger junger Bursche, der Zweite ist mein Agent Kulagin. Der junge Kerl macht ein paar rasche Schritte, späht mit professionellem Blick um sich, zieht die rechte Hand unter der Jacke hervor, atmet befriedigt auf, stellt sich neben mich. Kulagin hält an der Tür inne und lässt Tanja den Vortritt.
    Sie ist sehr blass.
    Dafür sieht Kulagin sehr stolz aus. Als hätte er eine großartige Entdeckung gemacht und könne mit einem bedeutenden internationalen Preis rechnen.
    »Da sind wir!«, sagt Kulagin. »Nicht erwartet? Wir haben beschlossen, zu dritt vorbeizukommen. Hol noch Gläser herbei. Vier. Du wirst gleich vier Gäste haben! Wir drei und noch jemanden! Das wird eine Überraschung für dich!«
    Was er sagt, dringt kaum zu mir, ich trete einen Schritt vor.
    »Tanja!«, sage ich.
    Die stählerne Hand des Breitschultrigen fängt mich ab.
    »Bleib stehen, wo du stehst!«
    »Tanja!«, wiederhole ich. Jetzt genügt mir, ihr einmal ins Gesicht zu blicken, um zu erkennen – sie hat keinem etwas zur Verfügung gestellt.
    Sie ist einfach betrogen worden. Man hat mit ihren Gefühlen gespielt. Sie genauso für dumm verkauft wie mich.
    »Stehen bleiben, verdammt!« Der Breitschultrige versetzt mir einen Stoß, ich fliege zurück und pralle mit dem Hinterkopf gegen die Wand.
    Das tut verteufelt weh. Ich betrachte den Kerl und versuche mich zu erinnern, ob ich ihn nicht durch das Objektiv gesehen habe.
    »Nein, nein!«, sagt Kulagin höhnisch, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Du hast ihn nicht fotografiert. Und meine Negative, die haben wir bei dir einkassiert. Sodass du, Genosse, bei null wirst anfangen müssen! Dir eröffnet sich ein riesiges Arbeitsfeld. Einfach beneidenswert!«
    Wie vor Begeisterung hebt er die Hände hoch, Tanjas Hand fliegt ebenfalls hoch, und ich stelle fest, dass er und sie mit einer Handschelle aneinandergefesselt sind.
    »Ja, ja«, sagt Kulagin, »eine Vorsichtsmaßnahme! Vitjascha! Setz unseren teuren Genossen hin, sonst fällt er noch in Ohnmacht. Vom Chef werden wir für so was kein Lob zu hören kriegen.«
    Der Breitschultrige greift nach meiner Hand und setzt mich auf einen Stuhl.
    »So ist es besser«, sagt Kulagin. »In den Beinen ist keine Wahrheit.«
     
    Es war schon fast nach Mitternacht, als sie Hunger bekam. Im Licht der Nachttischlampe schien ihr Körper durchsichtig, bläulich. Der Schlaf, der mich übermannt hatte, war tief, ich konnte ihn nur mit Mühe abschütteln, begriff mit Mühe, wo ich war und wer neben mir lag.
    Wir zogen uns rasch an, setzten uns ins Auto und fuhren los.
    Ich ahnte, wo uns die nächtlichen Straßen hinführen würden: Die laschen Anstrengungen, aus dem Strudel herauszukommen und anderswohin zu gelangen, blieben Versuche um der Versuche willen. Ich konnte nur hoffen, dass mein ehemaliges Lieblingsrestaurant nach dem Blutbad noch geschlossen war. Selbst als ich auf die Tür zuging, hielt ich an dem Gedanken fest, dass die parkenden Autos nicht Zerstreuung suchenden und mit Geld um sich werfenden Restaurantbesuchern gehörten, sondern Bewohnern der Häuser nebenan, die Geld zusammengelegt hatten, um nach dem Vorfall die beiden bei den Autos herumstehenden bulligen Wächter anzustellen und dazu den Wolfshund, den der eine an der kurzen Leine hielt.
    Doch als ich auf den Klingelknopf drückte, ging in der Restauranttür das kleine Fensterchen auf.
    »Haben Sie einen Tisch reservieren lassen?«, fragten mich launisch geschürzte Lippen.
    »Nein, das nicht«, erwiderte ich schicksalsergeben. »Wir wollten einfach zu Abend essen. Falls Sie wieder geöffnet haben.«
    »Wie viel sind Sie denn?«, stießen die Lippen hervor.
    »Zwei.«
    Statt der Lippen erschien in dem Fensterchen ein großes trübes Auge. »Warten Sie einen Moment!« Und das Fensterchen klappte zu.
    Tanja stand neben mir. Von ihr ging ein intensiver, irgendwie herbstlicher Duft aus. Ich zündete mir eine Zigarette an. Meine Hände zitterten leicht, was ihr nicht

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