Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Als er aufgelegt hatte, sagte er mit seinem üblichen Lachen: »Mon dieu, Martinique bekommt dir! Bist richtig braun geworden. Ich stelle auch keine Fragen!« Er bleckte die Zähne und griff nach
einem Dossier, das vor ihm lag.
»Ich habe dir gleich Kopien von allen Ergebnissen machen lassen. Mindestens zwei der Gewehre sind noch in den letzten Monaten benutzt worden. Wenn du Kugelvergleiche brauchst, die können wir hier nicht machen. Und zu den Flügen nach Paris: den hiesigen Unterlagen zufolge - Fehlanzeige. Unter anderem Namen zu reisen ist schwierig, weil man beim Einchecken den Personalausweis vorlegen muss. Aber wer unbemerkt nach Paris fliegen will, kann das auch über Umwege machen.«
»Das kennen wir. Tu mir einen Gefallen, lass alle Gewehre von Maurel nach Paris schicken. Der braucht die jetzt sowieso nicht mehr. Ich fliege wieder zurück. Für mich gibt es hier kaum noch was zu tun.«
»Heute kommst du aber nicht mehr weg.«
»Warum?«
»Streik. Heute ist Generalstreik.«
Ein Generalstreik zur rechten Zeit kann auch ganz praktisch sein, dachte Jacques, dann muss ich keinen Grund dafür erfinden, warum ich erst morgen fliegen kann. Als er wieder im Wagen saß, verstaute er die Akte im Handschuhfach, schloss es ab und rief Martine an. Sie war nicht mehr da. Er erreichte sie auf ihrem Handy im Bistro.
»Falls dich jemand fragt: Ich komme heute nicht aus Fort-deFrance raus. Hier legt ein Generalstreik alles lahm.«
»OK«, antwortete sie vorsichtig, »alles Notwendige habe ich dir gemailt.«
Er startete den 206 und fuhr auf die N3 in Richtung Bässe-Pointe.
*
Jacques unterdrückte den Wunsch, so locker und vertraut mit Amadee umzugehen wie Freitagabend beim Rum. Er fürchtete sich davor, ihr seine Gefühle zu zeigen. Sich selbst gegenüber redete er sich damit heraus, er sei schließlich dienstlich zu Besuch. Aber er fürchtete sich nicht nur vor seinen Empfindungen, sondern auch davor, von der schönen Kreolin freundlich - aber bestimmt - zurückgewiesen zu werden.
»Wie war es mit einem Kaffee«, fragte sie, »vier Uhr, das ist doch gerade die richtige Zeit.«
»Kaffee war schön. Danke«, sagte er steif.
Sie sah ihn an und beschloss, sich die Laune nicht durch seine Verklemmung verderben zu lassen. Er würde sich schon wieder lockern.
»Kommen Sie, setzen wir uns auf die Veranda.«
Er legte das Dossier und sein Notizbuch auf den niedrigen Couchtisch vor der Hollywoodschaukel, ehe er in den bequemen tiefen Kissen dieses Möbels fast versank. Amadee verschwand im Haus und kam, gefolgt von einem Dienstmädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze, wieder.
Während das Mädchen den Kaffee eingoss, musterte Amadee ihren Besucher spöttisch und fragte ihn: »Ist das ein Dienstbesuch - oder...«
»Oder war mir lieber. Aber ich habe noch ein paar Fragen. Wir haben die Gewehre untersucht. Aus mindestens zweien ist noch in den letzten Monaten geschossen worden. Wir werden sie in die Metropole schicken müssen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Warum nicht. Ich kann damit sowieso nichts anfangen. Und dass die benutzt worden sind, das ist klar. Ich weiß nicht, wann Gilles zum letzten Mal auf der Jagd war. Das kann schon länger her sein. Aber er hat die Gewehre auch seinem Vorarbeiter
geliehen. Kann man die Waffen nicht gleich in Paris verkaufen? «
»Das wäre praktisch. Aber erst einmal muss festgestellt werden, ob die Kugel, die den General traf, aus einem dieser Gewehre gekommen ist.«
Er nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse, diesmal aus Limoges-Porzellan, wieder ab und griff nach der Akte.
Amadee setzte sich neben ihn, wiegte ihren Kopf hin und her, legte wieder eine Hand auf seinen Unterarm und sagte: »Glauben Sie immer noch, dass der über neunzigjährige Gilles mit seiner Flinte losgezogen ist, um sich an dem General zu rächen? Da machen Sie sich lächerlich. Martinique hat er seit 1974 nicht mehr verlassen, und Alizee zum allerletzten Mal vor seinem Tod, als wir bei LaBrousse waren!«
»In dieser Akte liegt das Ergebnis der Untersuchung der Polizei in Fort-de-France. Und die gibt Ihnen Recht. In den Wochen vor dem Mord ist Ihr Mann nicht nach Paris geflogen -zumindest nicht auf direktem Weg.«
Mit offenen Handflächen streckte sie ihre Arme aus, so als wollte sie »na also!« sagen, und schaute ihn an. Wie konnte man nur immer so gut gelaunt sein. Wahrscheinlich gab es nichts, was sie belastete. Wirklich gar nichts. Er beugte sich vor, ergriff das schwarze Notizbuch
Weitere Kostenlose Bücher