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Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Schatten.«
    »Was heißt: das Unglück seines Lebens? War er so zart besaitet? Gut - er war in vietnamesischer Gefangenschaft. Aber im Zweiten Weltkrieg waren auch Zehntausende in
    Gefangenschaft, haben Hunderttausende einen Sohn, eine Mutter, eine Freundin, einen Mann verloren, und bei den Nazis dürfte es nicht gerade freundlich zugegangen sein. Denken Sie an Simone Weil, Ministerin unter Giscard, später sogar Präsidentin des Europaparlaments, die wurde, als sie siebzehn war, mit Mutter und zwei Schwestern nach Auschwitz und Bergen-Belsen verschleppt und ist nur mit einer Schwester lebend aus dem KZ zurückgekehrt. Und was hat sie getan? Frieden mit den Deutschen geschlossen. Und wie viele Mitglieder der Resistance sind von der Gestapo gefoltert worden, und sie sind doch mit dem Leben nach dem Krieg zurechtgekommen.«
    Amadee stand auf, verließ den Raum und kam nach einigen Minuten zurück. In der Hand trug sie einen großen, verblichenen Umschlag und gab ihn Jacques.
    »Gilles hat mir sein Carnet mit den Aufzeichnungen aus dem Lager in Vietnam erst zu lesen gegeben, als ich schon weit über dreißig war, und zwar mit den Worten: >Damit du mich kennst. Wenn das überhaupt möglich ist.< Ich...«, sie betonte dieses Wort, sah ihn kurz an und fuhr dann fort: »Ich war danach sprachlos. Ich konnte wirklich nicht mehr sprechen. Er hat mir dann vorsichtig und zärtlich ins Leben zurückgeholfen. Lesen Sie es. Setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Ich lasse Sie allein, und wenn Sie müde sind, finden Sie das Gästezimmer sicherlich allein.«

Gilles Carnet
    In dem Umschlag befand sich nicht viel. Ein geheftetes Bündel Notizpapier, das einmal ein schwarzes Carnet gewesen war, ein Moleskine, ein Kultobjekt wie das von Jacques, und ein dünner Ordner, in dem einzelne Papierfetzen sorgsam von Plastikhüllen geschützt wurden. Jacques fasste das Carnet vorsichtig an. Das Gummiband hielt immer noch, wunderte er sich, und auf der hinteren Innenseite des Heftes, wo eine Lasche zum Einstecken von losen Blättern angeklebt war, steckte ein Artikel der Illustrierten »Paris-Match« vom August 1954 mit der Überschrift: »Lebende Skelette. Gefangenenaustausch nach Ende des Kolonialkriegs in Indochina.« Die Fotos neben dem Text zeigen Männer in neuen Tropenuniformen an Deck eines französischen Kriegsschiffes, die aussehen wie lebende Skelette. Apathisch sehen sie vor sich hin. Manche liegen auf Tragen; eine Großaufnahme zeigt ein fast nacktes Knochengestell, das von einem wohl genährten Seemann mit nacktem Oberkörper gestützt wird, damit es mit der linken Hand eine Flasche an den Mund führen kann. In der rechten Hand hält der Dürre eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.
    »Die gefangenen Franzosen wurden von den Vietminh bis ans Ufer getrieben und gezwungen, rote Fahnen und Transparente zu tragen wie bei einer Friedensdemonstration, auf denen stand: >Schluss mit dem schmutzigen Krieg< oder >Frieden<«, berichtete »Paris-Match«. »Jedem Gefangenen hatten die Viets ein Bild übergeben, das die Friedenstaube von Picasso darstellte« und weiter: »Selbst Männer von ein Meter achtzig Größe wogen weniger als vierzig Kilo, der schwächste - und er hat überlebt! - wog bei der Untersuchung in der Krankenstation achtundzwanzig Kilo.«
    Jacques schlüpfte aus den Schuhen, zog die Beine hoch, legte
    die Füße auf die Couch und schlug das Carnet auf.
    »Gilles Maurel« stand mit Bleistift in einer altmodischen Handschrift auf der Innenseite des vorderen Deckels geschrieben. Die ersten Seiten enthielten einige nebensächliche Anmerkungen und Abkürzungen, die Maurel vermutlich bei Gesprächen zur Erinnerung und späteren Erledigung notiert hatte. Doch dann änderten sich die Aufzeichnungen und wurden zum Tagebuch.
    Mittwoch, den 28. Juli 1952
    Seit gestern sind Eric und ich Gefangene der Viets. Wir waren nur dreißig Kilometer weit aus Hanoi herausgefahren, um Enten zu schießen. Dass der Vietminh sich inzwischen schon so nah an Hanoi heranwagt, zeigt, dass seine Unterstützung auf dem Land immens gewachsen ist - oder dass es Ho Chi Minh zumindest gelingt, seine Landsleute in Angst und Schrecken zu versetzen.
    Am Morast eines kleinen, flachen Sees, mir als Entenparadies bekannt, pirschten Eric und ich am Rande des Schilfs entlang, als ein Schwärm hochflog und vor uns in die Lüfte flüchtete. Doch gerade, als wir anlegen wollten, drehten die Vögel um und flatterten wieder auf uns zu, was uns wohl verwirrte, aber nicht

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