Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
und entfernte das Gummiband, das die beiden Kartondeckel zusammenhielt. »Hmm«, knurrte er und suchte, in den Seiten blätternd, eine bestimmte Stelle.
»Aber in Paris sind wir weitergekommen. Himmelfahrt fiel letztes Jahr auf den 9. Mai. Und acht Tage vorher war eine Gruppe von zwölf Personen auf den Flug Air France 3551, ab Fort-de-France um 19 Uhr 45, an Orly 8 Uhr 55, gebucht, diese Gruppe hatte den Namen >Weihwasserbecken Saint-Pierre<. Dazu gehörte auch eine Person namens Maurel.«
»Und hatte die ein Gewehr dabei? Kennen Sie auch die anderen Namen?«
»Die Namen ja, aber nur eine Person. Loulou.«
»Loulou hat darüber für >France-Antilles< geschrieben. Angeführt wurde die Gruppe von Monseigneur Marie-Sainte. Er ist der Erzbischof von Martinique. Finanziert hat die Gruppenreise LaBrousse. Er war auch mit von der Partie.«
»Steht aber nicht auf der Liste!« »Kann ich die mal sehen?«
Jacques zögerte kurz, ob er ihr das Notizbuch geben sollte. Er hielt ihr die Seite hin.
»Sie haben eine schöne Schrift«, bemerkte Amadee und blickte hoch. Dann ging sie die Namen durch.
»Hier. Da steht er. Zwar nicht mit seinem Namen, aber in seiner Funktion: parrain Sponsor - Finanzpate.«
»Und warum steht er als Einziger nicht mit seinem Namen da?«
»Weiß ich nicht. Aber bei Erzbischof steht ja auch nur das Amt und nicht der Name, schauen Sie mal.«
Sie deutete mit dem Finger auf die Liste.
»Stimmt.« Jacques blätterte in den Notizen, Amadee lehnte sich zurück und schaute in die Ferne. Es waren keine Motorgeräusche zu hören, nur das, was man friedlich nennt: Vögel, Wind in den Bäumen, ein jaulender Hund. Auf der Weide standen heute keine Pferde - am Himmel zogen nur wenige lang gezogene Wolken kaum merkbar gen Norden.
»Bei der Reise ging es um eine ganz einfache Sache«, sagte Amadee. »Vor genau hundert Jahren an Christi Himmelfahrt, am 8. Mai 1902, ist die Kathedrale von Saint-Pierre bei dem Ausbruch des Mont Pelee zerstört worden - zusammen mit dem ganzen Ort, der damals die Hauptstadt der Insel war. Aber das feine kleine Weihwasserbecken aus grauem Marmor ist gerettet worden und auf Irrwegen in die Kirche Saint-Laurent im 10. Arrondissement gelangt. Dort befindet sich heute die Pfarrei der
antillianischen Gemeinde in Paris. Unsere Gruppe hat das Becken dort abgeholt und ist am 6. Mai zurückgekommen, am 9. Mai wurde es während der Heiligen Messe noch einmal geweiht und schon sechs Tage später von Pere Dumas wieder zurück nach Paris begleitet.«
»Also war Maurel in Paris.«
»Nein. Ich war in Paris.«
Jacques schaute sie verblüfft an. »Sie?«
»Ja. Ich gehörte zu der Gruppe, ich - Amadee Maurel.«
»Nicht Amadee Alibar?«
»Mein Mädchenname. Den behält man hier. Aber wenn Sie fliegen, müssen Sie ihren Ausweis vorzeigen. Nun, und wie heißt wohl die Frau von Gilles Maurel? Ich bin auch nur auf Bitten des Erzbischofs mitgeflogen. Er wollte mich dabei haben, denn ich gelte als Nachfahre des einzigen Überlebenden der Katastrophe. Ob das stimmt, weiß der Teufel. Meine Mutter hat es erzählt, und sie wusste es angeblich von ihrer Mutter. Meine Großmutter behauptete, ihr Vater sei der Schauermann Auguste Ciparis gewesen, der 1902 einen Tag vor Himmelfahrt völlig betrunken mitten in Saint-Pierre randalierte und deshalb in den Kerker in der Nähe des Gouverneursamtes gesperrt worden war. Und der Kerker lag tief im Keller. Vier Tage nach dem Vulkanausbruch wurde er da gefunden. Wahrscheinlich ziemlich nüchtern.«
»Und warum war LaBrousse dabei?«
»Weil er das Ganze finanziert hat. Um das mit ihm zu bereden, waren wir zu ihm gefahren an dem Tag, als Gilles dann wegen des Fotos ausrastete.«
»Und warum gab er das Geld? LaBrousse wirkt ja nicht gerade wie ein Kirchgänger.«
»Ist er auch nicht. Aber um das Weihwasserbecken bauten sich immer mehr Mythen auf. Es zum hundertjährigen
Gedenken hier zu haben wurde der ganzen Bevölkerung immer wichtiger. LaBrousse hat sich damit gutes Ansehen erkauft. Er war nie sehr beliebt und ist es dadurch auch nicht geworden.«
Jacques zog den Bleistift hervor und machte sich eine Notiz.
»Man vergisst zu viel«, sagte er nebenbei, ohne aufzublicken. Ganz nah hörte er eine Heuschrecke. Es war keine Grille mit ihrem nervtötenden Gesäge, es war das Hohe Lied jener Tiere, für die die alten Chinesen kleine, kostbare Käfige aus Elfenbein geschnitzt hatten, um nachts selig einzuschlafen, wenn das Tier den Vorderflügel über den langen
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