Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Hinterschenkel reibt und so ein sphärisches Zirpen erzeugt.
*
»Bleiben Sie doch zum Abendessen«, sagte Amadee fast beiläufig, nachdem das Dienstmädchen den Ti Punch gebracht hatte. Natürlich Trois Rivieres, hatte Amadee betont.
»Es gibt heute etwas Besonderes, Kaimanschwänze in Ingwersauce.«
»Dass es das noch gibt!«, antwortete Jacques abwesend, meinte aber die Kleidung des Dienstmädchens, die an Urgroßmutters Zeiten erinnerte. Fehlte nur noch das weiße Häubchen.
»Die kommen aus Cayenne«, antwortete Amadee und meinte das Fleisch des Kaimans. Er vergaß, auf die Einladung zu antworten, blieb einfach sitzen und schwieg.
Um kurz nach sechs bot die Sonne, als sie am Horizont verschwand, im Zusammenspiel mit den Wolken ein atemberaubendes Farbdrama, das beide schweigend betrachteten. Noch bevor es ganz dunkel geworden war, gingen unmerklich langsam Lichter in den Bäumen und dann auch um das Haus herum an. Unwirklich, einfach unwirklich,
kitschaskitschcan dachte Jacques. Kein Radio, kein Telefon, aber sonst Hightech! Fehlt nur noch Dolby Stereo.
Maurel blieb ihm ein Rätsel. Und Amadee auch, weshalb war sie die Frau dieses Mannes geworden? Weshalb trauerte sie nicht wie eine Witwe, sondern lebte das Leben fröhlich weiter und flirtete sogar mit dem Untersuchungsrichter, der ihren Mann für einen potenziellen Mörder hielt? Vielleicht verkörperte er Pariser Exotik für sie?
Plötzlich stand er auf, ging die drei Bretterstufen der Veranda herunter und fragte: »Kann ich noch einmal einen Blick in das Atelier werfen?«
»Die Tür ist offen. Der Lichtschalter gleich links.«
Niemand hatte etwas angerührt seit seinem letzten Besuch. Auf dem Zeichentisch lag immer noch der große Kupferstich mit dem bedrohlichen Vogel Cohe. Jacques beugte sich über das Blatt und bewunderte die Arbeit. Für ihn als Laien wirkte sie wie das Werk eines Meisters. Jeder einzelne Strich schien zu sitzen.
Und bei Kupferstichen war das die große Kunst, denn wenn die Nadel einmal eine Vertiefung in das Metall geritzt hatte, war nichts mehr zu korrigieren - wie bei einer Tuschezeichnung, wo der Pinselstrich weder mit Übermalen noch mit Radieren zu ändern ist. Ein Fachmann hätte vielleicht das eine oder andere mit der Lupe gesehen und moniert. Aber der Vogel schien zu leben. Er dachte an den Mythos, der den Cohe umgab, und meinte etwas zu spüren. Das bedeutete mehr als nur den Tod. Der Cohe wirkte wie ein Schreckensbote des Unheils. Nein, nicht wie einer, der die Apokalypse oder das Ende der Welt verkündet, aber doch Schrecken, Angst, Schmerzen und über den Tod hinaus empfundene Qualen. Maurel musste Monate, wenn nicht Jahre daran gearbeitet haben.
Jacques schaute in die Schränke. Nur Malutensilien. Eine Kommode mit zwölf flachen, über die ganze Breite des Möbels
laufenden Schubladen, war angefüllt mit Zeichnungen und Entwürfen. Nichts als Vögel. Maurel schien auf eine penible Ordnung geachtet zu haben. Auch in einer Zwillingskommode nur Entwürfe. Mit einem Unterschied: Sie zeigten alle den Cohe. Studien des Schnabels, des Gefieders, des Auges. Jacques zog eine Schublade nach der anderen auf, es blieb beim Cohe. Offensichtlich hatte Maurel die ältesten Entwürfe in das unterste Fach gelegt, man sah es dem Papier an - und dem Stil. Auf keinem Blatt stand ein Datum. Aber Jacques vermutete, dass die ersten Zeichnungen zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt wären.
Er erschrak, als die Tür hinter ihm aufging. »Wollen wir essen?«, fragte Amadee.
Das Dienstmädchen schien gegangen zu sein, denn Amadee legte das Essen vor und bat ihn, die Flasche Rose zu öffnen.
Der Kaiman schmeckte gut, von Farbe und Konsistenz lag das Echsenfleisch irgendwo zwischen Huhn und Kalb.
Jacques achtete nicht genau darauf. Seine Gedanken waren immer noch bei dem Vogel.
»Was hat ihn am Cohe fasziniert?«, fragte er.
»Mein Mann hat das Unglück seines Lebens nicht überwunden. Dabei war er ein liebenswürdiger Mensch, und wir haben alle versucht, ihm zu helfen. Aber nachdem er die Geschichten um den Cohe gehört hatte, ließ ihn der Wunsch, dem Vogel näher zu kommen, nicht mehr los. Er wollte vielleicht der Erste sein, der ihn je fangen würde. Er las nicht nur alles über den Cohe, er fragte auch die Ältesten hier, ob sie ihn je gesehen hätten und wo er sich aufhalte. Er verbrachte Nächte im Wald auf der Suche nach dem Cohe - mit Gewehr und sogar Infrarotfernrohr. Aber auch er hat nicht mehr gesehen als den
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