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Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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nur noch langsam hinken.
    Die Pflege bestand darin, ab und zu eine Pille zu verteilen, wenn es welche gab - eine Zeit lang waren wenigstens Salztabletten vorhanden -, und den Kranken Wasser zu geben. Es stank fürchterlich, denn die meisten von uns waren viel zu schwach, um den Pfad hinter das Lager zu schaffen, wo ein Querbalken als Toilette diente.
    Die zwölf Betten in der Hütte waren fast immer belegt. Nur wenige konnten mit eigener Kraft aufstehen, die meisten lagen wie ich hilflos da, man gewöhnte sich schnell an das Stöhnen der Leidenden. Aber immer noch besser hier als ein Haus
    weiter.
    Eric, der sehr ernst geworden ist, hatte mich auf einen Jutesack gelegt, den er zweimal am Tag unten am Fluss auswusch und durch einen trockenen ersetzte. Ich wurde jedoch immer schwächer und weigerte mich, die Reissuppe zu essen, so dass Eric mir den Mund aufpresste, um mir wenigstens ein wenig Flüssigkeit einzuflößen. Einmal versuchte er es mit Bananenbrei, doch das funktionierte nicht. Ich wurde immer kränker, magerer. Lag nur noch apathisch da. Manchmal glaubte ich, das Fieber wäre wiedergekommen, aber ich schwitzte nur wegen der Hitze und der großen Feuchtigkeit.
    Einmal davongekommen, wollen wir nicht jammern. Aber als Zeitzeugnis ist es interessant, die Ereignisse festzuhalten. Worunter haben wir am meisten gelitten? Neben den Krankheiten war es wohl die Verletzung der Seele. Die Kranken wurden nicht mehr als Menschen wahrgenommen, noch nicht einmal als Tiere, sondern als Abfall, von dem man nicht weiß, ob er schon verschimmelt ist oder doch noch nützlich sein kann. Es ist schlimmer als in den deutschen Konzentrationslagern, sagt Hong Grosjean, der zwei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbracht hat und kürzlich davon träumte, es wäre das Paradies gewesen.
    Wer hier lag, dem war fast alle Würde genommen. Nur diejenigen, die wie ich gepflegt wurden, waren ein wenig besser dran. Moskitonetze hätten uns das Leben erleichtert, denn jetzt im Sommer fielen Mücken und Fliegen in Scharen über uns her. Aber solche Mückennetze besaßen nur Bonfort und seine Mannschaft. Wer keine Kraft mehr hatte, sich zu kratzen, dem blieben wenigstens die eitrigen Wunden erspart, die wiederum Schmerz bereiteten. Soweit man überhaupt noch Gefühle für den eigenen Körper empfand.
    Nachts kamen Ratten, gegen die man sich wehren musste, denn sie aßen von dem, der nicht mehr zuckte. Wer im Bett lag, vielleicht mit einem abgefressenen Zeh, der wurde als unheilbar
    eingestuft. Und dies galt als Zeichen, ihn aus der Krankenhütte zu verlegen - ins Sterbehaus.
    Wer gesund genug war, um am täglichen Arbeitseinsatz teilzunehmen, der hatte sich Gefühle gegenüber Kranken, erst recht gegenüber den Toten abgewöhnt. Nach unseren Berechnungen starben mehr als siebzig Prozent der Gefangenen während des Aufenthalts im Lager 13. Besonders viele in den heißen Sommermonaten, mal acht, mal zehn Mann in einer Woche. Also musste auch jeder von uns damit rechnen, nicht jeder zweite, nein, jeder war gezeichnet. Unter solchen Umständen wird manch einer zynisch, und unser Hüttenkomiker sagte in Anspielung auf Bonforts ideologischen Unterricht, bei dem der französische Politkommissar stets vom Aufstand der Massen predigte, diesmal handele es sich um die Rückkehr der Massen ins Erdreich. Und wir haben tatsächlich alle gelacht. Auch ich.
    Drei Wochen lag ich in der Krankenhütte, und es ging eher bergab. Da kam Eric eines morgens völlig aufgelöst. Er war zu einem zweitägigen Einsatz eingeteilt worden, um Nachschub zu holen, und überzeugt, Bonfort habe dies bewusst so entschieden, nur um uns zu treffen. Eric wollte sich weigern zu gehen. Aber ich flüsterte, so gut es ging, er solle sich keine Sorgen machen. Ich würde durchhalten. Das sei ein Versprechen. Und solche Versprechen gäben wirklich Kraft.
    Eric küsste mich auf die Stirn, so als wollte er zur Not Abschied genommen haben. Ich war zu müde, um auch nur meine Hand an seine Wange zu legen und starrte ihm hinterher.
    Sein Einsatz dauerte länger als erwartet, und als Eric nach vier Tagen völlig erschöpft zurückkam, eilte er in die Krankenhütte, wo er mich nicht mehr vorfand. Noch in der Nacht, nachdem er aufgebrochen war, hatte mich wieder das hohe Fieber überkommen, ich musste wohl im Delirium seinen Namen
    geschrieen haben. Am nächsten Morgen krümmte ich mich nur noch in meinen Exkrementen. In der Nacht drauf duselte ich völlig ermattet im Halbschlaf vor mich

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