Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
vierzig Mann der Straßenbrigade haben es zweiunddreißig bis ins Lager geschafft, wo uns eine längliche Strohhütte zugewiesen wird. Die Betten bestehen aus einem Bambusrost und einem Jutesack als Decke. Keiner der alten Gefangenen, es dürften hundertzwanzig sein, richtet ein Wort an uns, und es scheint, als sei jeder auf sich selbst fixiert. Zum Abendessen gibt es eine dünne Reissuppe, und im Anschluss daran findet regelmäßig eine Sitzung zum Thema Selbstkritik statt, an der alle Gefangenen teilnehmen.
Zunächst hält Bonfort eine Rede, in deren Kern er uns klar macht, wir seien unbewusst Spielzeuge der Finanzmagnaten geworden, die sich heute ihre Hände in Unschuld wüschen und uns abgeschrieben hätten. Nur durch Bedauern, Wiedergutmachen und Verbrüdern würde uns die Pforte zu einer gerechten und selbst gewonnenen Freiheit geöffnet.
Das läuft ab nach dem Motto Beichten, Sühne, Absolution, erkläre ich Eric später. Doch der antwortet: Alle machen das Spiel mit, und es schadet keinem. Es führt nur zu Strafen, wenn man dagegenhält.
Zu welchen Exzessen das Mitmachen führt, zeigt Hong Grosjean schon am zweiten Abend im Lager. Er meldet sich zur
Selbstkritik. Grosjean steht auf, dreht sich zur Versammlung und erhebt die Faust zum kommunistischen Gruß. Dann ruft er: >Lasst uns erkennen: Wir sind alle Mörder des vietnamesischen Volkes. <
Und sofort fallen die alten Lagerinsassen ein. >Ja, wir sind alle Mörder. <
Bonfort nickt zustimmend. Hong Grosjean dürfte einen großen Schritt in Richtung Liste gemacht haben. Dann erhebt sich der Lagerleiter und beginnt auf Vietnamesisch ein Loblied auf Hö Chi Minh zu singen, die Alten kennen es und fallen im Chor ein. Es folgt die Internationale. Ich schweige. Und als alle den letzten Ton gesungen haben, stimme ich die Marseillaise an. Keiner dreht sich zu mir um. Bonfort wirkt wie versteinert, schreit dann auf Vietnamesisch los, und die Wachen schlagen auf mich ein. Drei Tage werde ich im Büffelstall an einen Pfahl festgebunden. Die größte Qual ist nicht der Gestank der Tiere, sondern die unzähligen Mücken.
Eric hat mir heimlich zu essen und zu trinken gebracht. Sonst hätte ich es wohl kaum überlebt.
Als er meine Schulter drückte und flüsterte: >Das darfst du nicht noch mal machen, aber es hat uns allen Kraft gegebene hat mich das darin bestärkt, meine Haltung nicht aufzugeben.
Bonfort ließ mich holen, doch als er mich sah - und roch -, befahl er den Wächtern, mich zum Goldenen Fluss zu führen, wo ich mich waschen sollte. Seife gibt es keine.
Später legte Bonfort mir ein Papier vor, das ich unterschreiben sollte. Es war ein Flugblatt, mit dem französische Soldaten aufgerufen werden sollten, sich zu ergeben. Auf seine kalte Art erklärte er, damit könne ich mein Fehlverhalten wieder gutmachen.
Ich fürchte, Bonfort glaubt, was er sagt. Ich wiederholte meine Litanei von der Genfer Konvention. Bonfort versuchte mit ruhiger Stimme, mich zu überzeugen. Aber seine ideologischen
Sprüche verfangen bei mir nicht. Eric und ich seien unter diesen Umständen nicht wählbar für die Liste der Freizulassenden, sagte er. Sippenhaft sei doch sehr bourgeois, antwortete ich, und würde sicherlich nicht der Politik der Milde Ho Chi Minhs entsprechen. Doch mit seinem letzten Wort siegte er: Eric habe das Flugblatt unterschrieben.
Arbeit
Zeit ist nichts Elementares mehr, es sei denn in den Gedanken an die Freiheit. Die Natur gibt Hinweise, in welcher Jahreszeit wir uns befinden, es dürfte jetzt März sein. Aber nur von unseren Wächtern könne n wir erfahren, wo wir uns im Kalender befinden. Jeder Tag verläuft gleich monoton. Nach dem Frühstück - dünne Reissuppe - werden wir zur Arbeit eingeteilt. Die einen müssen auf den Reisfeldern arbeiten, andere werden geschickt, Brennholz zu holen. Wiederum andere schneiden Bambus, um die Hütten zu reparieren. Manches Mal werden kleine Trupps zusammengestellt, die mehrere Tage unterwegs sind, um Nachschub zu holen. Es sind die schwersten Einsätze, denn mit einem gefüllten Reissack zwei oder drei Tage durch den Dschungel zu stolpern, das schaffen nur die Stärksten. Und stark ist keiner mehr. Jeden erwischt die Krankheit. Sumpffieber, wie auch Darminfektionen, Diarrhöe, Ruhr, Typhus. Und Arzneimittel gibt es kaum.
Ein einziges Mal fand Eric, als er mit zwei Wächtern und einem weiteren Gefangenen unterwegs war, um Nachschub zu holen, am Ufer des Goldenen Flusses einen großen Frachtsack des
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