Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
Vom Netzwerk:
hin, und glaubte plötzlich, Eric wäre zurückgekommen und berühre mich. Dabei war eine Ratte auf mein Bein gesprungen. Aber ich konnte weder stöhnen noch mich regen. Sie biss in mein Schienbein, das zu bluten begann, dann in die Wade.
    Es ist ein Phänomen, dass man sich mit dem Bewusstsein außerhalb des eigenen Körpers begeben und ohne Gefühl wahrnehmen kann, was mit ihm geschieht.
    Am Morgen wurde ich auf eine Bahre gepackt und ins Sterbehaus getragen. Dort schaute keiner mehr nach mir. Wer starb, der wurde am nächsten Morgen auf den langen Tisch in der Mitte der Hütte gelegt, und wenn genügend Skelette beisammen waren, dann wurden sie abgeholt und beerdigt. Meist standen einige Mitgefangene aus der eigenen Hütte um das Grab, das sie selbst geschaufelt hatten, und aus der Gemeinschaftsbibel wurden ein paar Worte gelesen. Doch auch die Bibel wurde immer dünner. Denn wer als Raucher wieder einmal mit etwas Glück ein Tabakblatt gefunden, getrocknet und klein gehäckselt hatte, der versuchte aus der Bibel ein paar Seiten zu entwenden. Das dünne Papier eignete sich gut, um Zigaretten zu drehen.
    Der erste Friedhof war schon längst wieder vom Urwald überwuchert, eine neue Lichtung freigeschlagen worden. Und weil eine Beerdigung Kraft kostet, grub man nicht zu tief, weshalb nach dem Monsunregen Schädel oder Knochen aufgeschwemmt wurden.
    Das Versprechen, das ich Eric gegeben hatte, stärkte meinen Willen durchzuhalten und hinderte mich daran, aufzugeben, obwohl ich kaum noch Kraft besaß. Ich weiß nicht, wie lange, ob es Tage waren, die ich in meinem eigenen Dreck vegetierte, schlimmer als Müll, aber wahrscheinlich war mein Blick so starr, das Atmen so leise geworden, dass auch ich für tot
    gehalten wurde. So nahm mich jemand hoch und legte mich auf den Tisch zu den Toten, ein Haufen besudelter Knochen, die nur noch von gelber oder brauner Lederhaut zusammengehalten wurden.
    Von seinem Arbeitseinsatz zurückgekommen, eilte Eric in die Krankenhütte, und als er mich dort nicht fand, rannte er ins Sterbehaus, rief laut >Vater<. Ich habe es nicht gehört. Zunächst suchte er mich unter den Sterbenden, bis er mich dann unter den Toten auf dem Tisch entdeckte. Er begann laut zu schluchzen, doch als er noch einmal meine Stirn küssen wollte, stellte er fest, dass ich noch nicht so kalt war wie die Toten neben und über mir und meine Augen nach oben schauten, obwohl man den Toten auf dem Tisch die Augenlider zudrückte. So viel Pietät war doch noch vorhanden. Oder fürchtete sich jemand vor dem Blick aus dem Hades?
    Eric nahm mich in seine Arme und trug mich in unsere Hütte, legte mich in sein Bett und deckte mich mit allen Jutesäcken zu, die er von den anderen Betten nahm - und keiner protestierte. Am nächsten Morgen stand er bei erstem Licht auf, schlug genug Bambus und ging hinunter zum Goldenen Fluss. Und als er begann, eine kleine Hütte zu bauen, kamen zwei, drei, vier von der Straßenbaubrigade und halfen ihm. Ein Dach aus Laub, drei Wände, die Seite zum Fluss hin offen. Sie trugen mich auf meinem Bett hinunter. Und Eric sagte: So kann er wenigstens in Würde sterben, Würde, die ihm so wichtig ist.
    Mein Sohn legte sich nachts neben mich, hielt mich im Arm und redete. Er sagt, er habe mir sein Leben erzählt - und von seiner Mutter, die ihm so gefehlt habe, weshalb er den Vater brauche.
    Vom Fluss wehte frische Luft in die Hütte, am nächsten Morgen schlief ich ein.
    So wird er mich gerettet haben. Denn Bonfort unternahm nichts. Alle dachten, er hätte die angespannte Stimmung im
    Lager bemerkt und sich zurückgehalten. Später erfuhren wir, dass auch Bonfort an Sumpffieber litt und in diesen Tagen von Fieberanfällen geschüttelt in seiner Baracke lag.
    Jetzt beginnt der November, und ich lebe wieder mit allen zusammen in unserer Baracke.«
    Amadee kam mit verschlafenem Blick, in einen seidenen Morgenrock gehüllt ins Wohnzimmer und fragte: »Was ist?«
    Jacques schaute hoch und bemerkte erst dann die Tränen in seinem Gesicht.
    Als er nicht antwortete, sagte sie: »Du hast so entsetzlich gestöhnt, als hättest du große Schmerzen.«
    Und mit den Worten: »Ist alles in Ordnung?«, setzte sie sich hinter ihn, legte die Arme um seinen Rücken, den Kopf auf das Schulterblatt und seufzte. »Schrecklich, nicht wahr?«
    Jacques sagte nichts, aus Angst, in lautes Schluchzen ausbrechen zu müssen. Er atmete tief durch, stand auf, ging zur Tür, öffnete das Fliegengitter und trat auf die dunkle

Weitere Kostenlose Bücher