Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Weg von drei bis vier Tagen. Bonfort: Eric muss zwei Säcke tragen.
Das ist eine harte Bestrafung.
Eric hat es schon vor langem aufgegeben, mit mir über meine Haltung zu sprechen. Beim Abschied sehen wir uns in die Augen und trennen uns ohne sichtbare Gefühle mit dem gegenseitigen Gruß: Halt durch.
Ich werde vom Arbeitseinsatz befreit, dafür aber einer anderen Qual unterworfen. Jeder einzelne Gefangene soll mich eine halbe Stunde lang politisch >erziehen<. Bonfort verspricht: Wem es gelingt, mich zu einem Aufruf zu überreden, der wird sofort freigelassen. Bisher hat er immer zu seinem Wort gestanden. Im Lager befinden sich immer noch achtzig Gefangene, also: vierzig Stunden Qual. Zehn Stunden am Tag, ebenso lang wie Erics Arbeitseinsatz.
Damit der >Erzieher< und ich nicht ins Plaudern kommen, sitzt immer ein Viet neben mir, oder Bonfort kontrolliert uns. Keiner der Gefangenen hat sich umerziehen lassen. Trotzdem spielen alle bei Bonfort mit. Kurzfristig. Aber das Leben danach ist lang. Ich lasse die Männer reden und schließe manchmal die Augen, bis Bonfort mich anbrüllt. Zehn Stunden Reden. Ich höre nichts. Am zweiten Tag, zehn Stunden Reden, ich höre nichts. Das Sitzen wird mühselig. Am dritten Tag, zehn Stunden Reden, ich höre nichts. Auch der vierte Tag vergeht.
Als die Truppe vom Reisholen zurückkommt, fehlt Eric. Er habe wieder einen Anfall von Ruhr erlitten. Einen schweren. Man habe ihn zwei Tage entfernt in einem Bergdorf bei Bauern zurückgelassen. Ein Trick von Bonfort? Nein, es stimmt, wird mir zugeflüstert.
Die Propaganda-Truppe nickt ab. Bonfort sagt: Ich gebe dir eine weitere Woche Bedenkzeit. Und droht: Man kann sich auch
totarbeiten.
Eric geht es wohl sehr schlecht. Ich kann ihm nicht helfen. Ich kann Bonfort nicht bitten, mich zu meinem Sohn zu lassen. Eric, der mir das Leben gerettet hat. Soll ich dafür vietnamesische Propaganda betreiben? Ich quäle mich. Ich schwitze nachts große Wassertropfen, Sumpffieber?
Einsatz zum Ausheben von Gräbern. Einsatz, das Plumpsklo zu reparieren. Einsatz, die Kranken ins Sterbehaus zu tragen. Bonfort zwingt mich, an Eric und den Tod zu denken. Da mein Sohn nicht kommt, geht es ihm immer noch schlecht. Er wird doch nicht daran denken zu fliehen, sobald es ihm besser geht? Das ist niemandem je gelungen. Allein in dieser Woche: vier Tote. Ich kann nicht einschlafen. Sind immaterielle Ideale wichtiger als ein Menschenleben? Das Leben eines Sohnes? Meines Sohnes?
Nach zwei Wochen Latrinendienst sagt Bonfort: Letzte Chance. Nein. Zögere ich? Nein! Halte ich durch? Hoffentlich. Eine kleine Truppe kommt vom Reisholen. Nachricht von Eric? Einer gibt mir Erics Ledergürtel. Sie hätten ihn selber beerdigt. Jetzt halte ich durch.«
Jacques saß noch lange im Dunkeln auf der Veranda. Dann legte er sich ins Bett und schlief sofort ein. Er reagierte kaum, als Amadee kam und zu ihm unter das Leinentuch schlüpfte, auch nicht, als sie sich an ihn schmiegte und seinen Kopf an ihre Brust drückte, als er schluchzte.
In der Dämmerung am Morgen haben Jacques und Amadee sich dann so liebevoll umarmt, als würden sie sich schon lange kennen. Sie hielten sich fest umklammert, während sie schweißgebadet Haut an Haut lagen und jeden Moment der Nähe des anderen genossen.
Später an diesem Morgen haben sie nicht mehr viel
miteinander geredet. Jacques sagte nur, dass er am Abend nach Paris fliegen würde. Und sie fragte ihn nicht, ob - oder wann - er wiederkomme, sondern küsste ihn, als er sich an der Autotür verabschiedete, kurz auf den Mund, so als führe er, wie jeden Tag, zur Arbeit.
Zum Rapport
Sie sehen wirklich so aus, als kämen Sie aus dem Urlaub«, sagte die Gerichtspräsidentin, als sie ihm die Hand zur Begrüßung reichte, »zehn Jahre jünger, strahlende Augen. Waren Sie wirklich so erfolgreich, wie Sie aussehen?«
Jacques schaute sie an und glaubte, einen freundlichen Blick zu erhaschen. Er hatte nie den Respekt vor seiner Vorgesetzten verloren, fürchtete sich vielleicht sogar ein wenig vor dieser Frau, deren Haar auch heute wieder so perfekt gelegt war, als wäre sie gerade eben vom Friseurstuhl aufgestanden und ginge zur Kasse, um zu zahlen. Wieso gibt es Leute, fragte sich Jacques, die wirken, als würden sie nie in ihrem Leben Fehler begehen? Sie hatte eine perfekte Karriere absolviert, zwischendrin drei Kinder nicht nur empfangen, darüber -Jacques schüttelte sich schon allein bei der Vorstellung - wollte er gar nicht nachdenken,
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