Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Status als Kriegsgefangene? Ich habe dafür eine einfache Erklärung: Die französische Armee wollte verhindern, dass zu präzise untersucht würde, was sich eigentlich in den französischen Gefangenenlagern abgespielt hat.
>Die Meldungen, die ich aus dem Büro des Oberkommandos in Indochina empfange<, schreibt General de Beaufort in einem Bericht des Jahres 1955, >könnten uns, falls sie bekannt würden, in eine unangenehme, zumindest peinliche Situation versetzen, denn sie enthalten eine Liste von 4500 gefangenen Vietminh, die nicht mehr leben.<«
Richter Claude fragte, wann eigentlich Freddy Bonfort nach Frankreich zurückgekehrt sei.
»Nicht gleich«, sagte Jacques, »sondern erst zwölf Jahre nach den Abkommen von Genf. In Frankreich wäre er wegen Landesverrats angeklagt worden. Die Vietnamesen beförderten ihn nach Kriegsende zu einem der Rektoren der Universität Hanoi, wo er die geisteswissenschaftliche Fakultät leitete und wieder mit >Hühnchen<, Thierry Poulet, in Beziehung trat. Poulet, inzwischen Professor in Lyon, hatte sich auf Indochina spezialisiert und suchte in Hanoi Helfer für wissenschaftliche Arbeiten. Er benötigte Informationen, die ihm nur ein in Vietnam lebender Korrespondent liefern konnte. Bald besuchte er Hanoi einmal jährlich und brachte Viktualien aus der Heimat mit, nach denen sich Freddy sehnte.«
Freddy Bonfort schrieb:
»Der Marxismus mit menschlichem Antlitz war meine Vision. Ich hoffte, dass sie in Vietnam Wirklichkeit werden könnte, dass ein kommunistischer Staat keine Utopie bleiben müsste. Doch als Mao in China die Kulturrevolution ausrief, die wohl zehn Millionen Chinesen das Leben kostete, schloss sich Vietnam immer enger an die chinesische Doktrin des Maoismus an - mit den gleichen blutigen Folgen. Als ich an der Universität eine ideologiekritische Vorlesung hielt, die mir den Ruf einbrachte, eine prosowjetische Position zu vertreten, wurde ich - freundlich - gebeten, die Parteilinie nicht mehr öffentlich zu kritisieren. Von da an begann ich mir Sorgen um mein Leben zu machen und um das meiner Frau, einer wunderbaren vietnamesischen Tänzerin.«
»Seine Ausreise nach Moskau hat er dann heimlich vorbereitet«, berichtete Jacques. »Dort erhielt er eine neue Identität und wurde einige Monate später nach Prag gebracht, wo eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität auf ihn wartete.«
»Und was hat ihm endlich die Rückkehr ermöglicht?«, fragte Claude, schüttete sich von dem Brouilly ein, den sie inzwischen tranken, lachte plötzlich schelmisch und bot gleich eine Antwort an: »Wahrscheinlich eine Amnestie. So sind wir Franzosen. Zuerst sündigen wir kräftig, dann beichten wir und erhalten die Absolution.«
»Na klar! Und diesmal haben die Politiker es ganz besonders geschickt gehandhabt«, erklärte Jacques und fiel kopfschüttelnd in das Lachen seines Freundes ein: »Das Parlament hatte eine Amnestie für den Algerienkrieg vorbereitet, und die KPF hat das als Chance gesehen, für sich selbst was rauszuschlagen. Über einen geheimen Kontakt zu Präsident de Gaulle haben die Kommunisten dafür gesorgt, dass in die Algerienamnestie, die ja schon den General als Folterer unbestraft ließ, ein kleiner Satz eingefügt wurde, der besagte, dass auch Verbrechen und Vergehen aus dem Krieg in Indochina unter diesen Straferlass fallen. Punkt! Fertig! Und keiner hat's gemerkt. Vierzehn Tage nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, schwebte Freddy Bonfort in Lyon ein, wo ihn Poulet an der Uni unterbrachte.«
»Und wegen seines großen Spezialwissens über Vietnam wurde Freddy bald zum Professor ernannt«, sagte Claude und stieß auf das Ende der Geschichte und des Abends an.
Der letzte Absatz aus Freddy Bonforts »Verteidigung einer Utopie« lautet:
»Ja, ich wiederhole: Ich habe Fehler begangen. Aber kann jemand wagen, mir Schuld aufzuladen, nur weil ich zu früh einer Idee gefolgt bin, die sich zwanzig Jahre später in einem Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 1970 wiederfindet:
>Die Aufrechterhaltung des Kolonialismus in all seinen Formen und Ausprägungen stellt ein Verbrechen dar und ist ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, gegen die Erklärung zur Erlangung der Unabhängigkeit der Kolonialländer
und -Völker und gegen die Prinzipien des Völkerrechts.<«
*
Von Lyon aus telefonierte Jacques nur einmal kurz mit Martine, ließ sich aber nicht von seiner Recherche abhalten. Doch
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