Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
nicht«, sagte der Arzt endlich in die Stille des Krankenzimmers hinein. »Ich kann nicht.
Gott soll mir helfen, ich bringe den Verdacht nicht los. Ich kenne ihn zu gut. Ich habe mit ihm studiert, und zweimal war er mein Stellvertreter. Er ist es auf diesem Bild. Die Operationsnarbe über der Schläfe ist auch da. Ich kenne sie, ich habe Emmenberger selbst operiert.«
Hungertobel nahm die Brille von der Nase und steckte sie in die rechte obere Tasche. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirne.
157
»Emmenberger?« fragte der Kommissär nach
einer Weile ruhig. »So heißt er?«
»Nun habe ich es gesagt«, antwortete Hungertobel beunruhigt. »Fritz Emmenberger.«
»Ein Arzt?«
»Ein Arzt.«
»Und lebt in der Schweiz?«
»Er besitzt die Klinik Sonnenstein auf dem Zü-
richberg«, antwortete der Arzt. »Zweiunddreißig wanderte er nach Deutschland aus und dann nach Chile. Fünfundvierzig kehrte er zurück und übernahm die Klinik. Eines der teuersten Spitäler der Schweiz«, fügte er leise hinzu.
»Nur für Reiche?«
»Nur für Schwerreiche.«
»Ist er ein guter Wissenschaftler, Samuel?«
fragte der Kommissär.
Hungertobel zögerte. Es sei schwer, auf seine Frage zu antworten, sagte er. »Er war einmal ein guter Wissenschaftler, nur wissen wir nicht recht, ob er es geblieben ist. Er arbeitet mit Methoden, die uns fragwürdig vorkommen müssen. Wir wis -
sen von den Hormonen, auf die er sich spezialisiert hat, noch herzlich wenig, und wie überall in Gebieten, die sich die Wissenschaft zu erobern anschickt, tummelt sich allerlei herum. Wissenschaftler und Scharlatane, oft beides in einer Person. Was will man, Hans? Emmenberger ist bei seinen Patienten beliebt, und sie glauben an ihn wie an einen Gott.
158
Das ist ja das wichtigste, scheint mir, für so reiche Patienten, denen auch die Krankheit ein Luxus sein soll; ohne Glauben geht es nicht; am wenigsten bei den Hormonen. So hat er eben seine Erfolge, wird verehrt und findet sein Geld. Wir nennen ihn denn ja auch den Erbonkel —«
Hungertobel hielt plötzlich mit dem Reden inne, als reue es ihn, Emmenbergers Übernamen ausgesprochen zu haben.
»Den Erbonkel, Wozu diesen Spitznamen?«
fragte Bärlach.
Die Klinik habe das Vermögen vieler Patienten geerbt, antwortete Hungertobel mit sichtlich schlechtem Gewissen. Das sei dort so ein wenig Mode.
»Das ist euch Ärzten also aufgefallen!« sagte der Kommissär.
Die beiden schwiegen. In der Stille lag etwas Unausgesprochenes, vor dem sich Hungertobel fürchtete.
»Du darfst jetzt nicht denken, was du denkst«, sagte er plötzlich entsetzt.
»Ich denke nur deine Gedanken«, antwortete der Kommissär ruhig. »Wir wollen genau sein. Mag es auch ein Verbrechen sein, was wir denken, wir sollten uns nicht vor unseren Gedanken fürchten.
Nur wenn wir sie vor unserem Gewissen auch zugeben, vermögen wir sie zu überprüfen und, wenn wir unrecht haben, zu überwinden. Was denken wir nun,
159
Samuel? Wir denken: Emmenberger zwingt seine Patienten mit den Methoden, die er im Konzentrationslager Stutthof lernte, ihm das Vermögen zu vermachen, und tötet sie nachher.«
»Nein«, rief Hungertobel mit fiebrigen Augen:
»Nein!« Er starrte Bärlach hilflos an. »Wir dürfen das nicht denken! Wir sind keine Tiere!« rief er aufs neue und erhob sich, um aufgeregt im Zimmer auf und ab zu gehen, von der Wand zum Fenster, vom Fenster zum Bett.
»Mein Gott«, stöhnte der Arzt, »es gibt nichts Fürchterlicheres als diese Stunde.«
»Der Verdacht«, sagte der Alte in seinem Bett, und dann noch einmal unerbittlich: »Der Verdacht.«
Hungertobel blieb an Bärlachs Bett stehen:
»Vergessen wir dieses Gespräch, Hans«, sagte er.
»Wir ließen uns gehen. Freilich, man liebt es manchmal, mit Möglichkeiten zu spielen. Das tut nie gut. Kümmern wir uns nicht mehr um
Emmenberger. Je mehr ich das Bild ansehe, desto weniger ist er es, das ist keine Ausrede. Er war in Chile und nicht in Stutthof, und damit ist unser Verdacht sinnlos geworden.«
»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach, und seine Augen funkelten gierig nach einem neuen Abenteuer. Sein Leib dehnte sich, und dann lag er wieder unbeweglich und entspannt, die Hände hinter dem Kopf.
160
»Du mußt jetzt zu deinen Patienten gehen, Samuel«, meinte er nach einer Weile. »Die warten auf dich. Ich wünsche dich nicht länger
aufzuhalten. Vergessen wir unser Gespräch, das wird am besten sein, da hast du recht.«
Als Hungertobel sich unter der Türe
Weitere Kostenlose Bücher