Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
verwachsend mit der Nacht, und wie die Türe ins Schloß fiel und wenig später draußen ein Wagen davonfuhr, erlosch die Kerze, den Alten, der die Augen geschlossen hatte, noch einmal in das Licht einer grellen Flamme tauchend.
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Bärlach saß die ganze Nacht im Lehnstuhl, ohne aufzustehen, ohne sich zu erheben. Die ungeheure, gierige Lebenskraft, die noch einmal mächtig in ihm aufgeflammt war, sank in sich zusammen, drohte zu erlöschen. Tollkühn hatte der Alte noch einmal ein Spiel gewagt, aber in einem Punkte hatte er Tschanz belogen, und als am frühen Morgen, bei Tagesanbruch, Lutz ins Zimmer stürmte, verwirrt berichtend, Tschanz sei zwischen Ligerz und Twann unter seinem vom Zug erfaßten Wagen tot aufgefunden worden, traf er den Kommissär todkrank. Mühsam befahl der Alte, Hungertobel zu benachrichtigen, jetzt sei Dienstag und man könne ihn operieren.
»Nur noch ein Jahr«, hörte Lutz den zum Fenster hinaus in den gläsernen Morgen starrenden Alten sagen. »Nur noch ein Jahr.«
Der Verdacht
ERSTER TEIL
Bärlach war Anfang November 1948 ins Salem eingeliefert worden, in jenes Spital, von dem aus man die Altstadt Berns mit dem Rathaus sieht. Eine Herzattacke schob den dringend gewordenen Eingriff zwei Wochen hinaus. Als die schwierige Operation unternommen wurde, verlief sie glücklich, doch ergab der Befund jene hoffnungslose Krankheit, die man vermutete. Es stand schlimm um den Kommissär. Zweimal schon hatte sein Chef, der Untersuchungsrichter Lutz, sich mit dessen Tod abgefunden, und zweimal durfte er neue Hoffnung schöpfen, als endlich kurz vor Weihnachten die Besserung eintrat. Über die Feiertage schlief zwar der Alte noch, aber am siebenundzwanzigsten, an einem Montag, war er munter und schaute sich alte Nummern der amerikanischen Zeitschrift »Life«
aus dem Jahre fünfundvierzig an.
»Es waren Tiere, Samuel«, sagte er, als Dr.
Hungertobel in das abendliche Zimmer trat, seine Visite zu machen, »es waren Tiere«, und reichte ihm die
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Zeitschrift. »Du bist Arzt und kannst es dir vorstellen. Sieh dir dieses Bild aus dem Konzentrationslager Stutthof an! Der Lagerarzt Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation ohne Narkose durch und ist dabei fotografiert worden.«
Das hätten die Nazis manchmal getan, sagte der Arzt und sah sich das Bild an, erbleichte jedoch, wie er die Zeitschrift schon weglegen wollte.
»Was hast du denn?« fragte der Kranke verwundert.
Hungertobel antwortete nicht sofort. Er legte die aufgeschlagene Zeitschrift auf Bärlachs Bett, griff in die rechte obere Tasche seines weißen Kittels und zog eine Hornbrille hervor, die er — wie der Kommissär bemerkte — sich etwas zitternd auf-setzte; dann besah er sich das Bild zum zweiten-mal.
»Warum ist er denn so nervös?« dachte Bärlach.
»Unsinn«, sagte endlich Hungertobel ärgerlich und legte die Zeitschrift auf den Tisch zu den ändern. »Komm, gib mir deine Hand. Wir wollen nach dem Puls sehen.«
Es war eine Minute still. Dann ließ der Arzt den Arm seines Freundes fahren und sah auf die Tabelle über dem Bett.
»Es steht gut mit dir, Hans.«
»Noch ein Jahr?« fragte Bärlach,
Hungertobel wurde verlegen, »Davon wollen 152
wir jetzt nicht reden«, sagte er, »Du mußt auf-passen und wieder zur Untersuchung kommen.«
Er passe immer auf, brummte der Alte.
Dann sei es ja gut, sagte Hungertobel, indem er sich verabschiedete.
»Gib mir doch noch das >Life<«, verlangte der Kranke scheinbar gleichgültig. Hungertobel gab ihm eine Zeitschrift vom Stoß, der auf dem Nachttisch lag.
»Nicht die«, sagte der Kommissar und blickte etwas spöttisch nach dem Arzt. »Ich will jene, die du mir genommen hast. So leicht komme ich nicht von einem Konzentrationslager los.«
Hungertobel zögerte einen Augenblick, wurde rot, als er Bärlachs prüfenden Blick auf sich gerichtet sah, und gab ihm die Zeitschrift. Dann ging er schnell hinaus, so als sei ihm etwas unangenehm. Die Schwester kam. Der Kommissär ließ die ändern Zeitschriften hinaustragen.
»Die nicht?« fragte die Schwester und wies auf die Zeitung, die auf Bärlachs Bettdecke lag.
»Nein, die nicht«, sagte der Alte.
Als die Schwester gegangen war, schaute er sich das Bild von neuem an. Der Arzt, der das bestialische Experiment ausführte, wirkte in seiner Ruhe götzenhaft. Der größte Teil des Gesichts war durch den Nasen- und Mundschutz verdeckt.
Der Kommissär versorgte die Zeitschrift in seiner Nachttisch Schublade und
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