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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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los?«
    Bärlach sah seinem fassungslosen Freund nachdenklich ins Gesicht, in dieses alte, noble, mit Falten überzogene Antlitz eines Arztes, der es in seinem Leben mit seinen Patienten nie leichtgenommen hatte und der doch nichts von den Menschen wußte, und dann sagte er: »Du rauchst doch immer noch deine >Little-Rose of Sumatra<, Samuel? Es wäre jetzt schön, wenn du mir eine anbieten würdest. Ich stelle es mir angenehm vor, so eine nach meiner langweiligen Haferschleimsuppe in Brand zu stecken.«

    165
    Die Entlassung
    Doch bevor es noch zum Mittagessen kam, erhielt der Kranke, der immer wieder den gleichen Artikel Emmenbergers über die Bauchspeicheldrüse las, seinen ersten Besuch seit seiner Operation. Es war der »Chef«, der um elf das Krankenzimmer betrat und etwas verlegen am Bett des Alten Platz nahm, ohne den Wintermantel abzulegen, den Hut in der Hand. Bärlach wußte genau, was dieser Besuch bedeuten sollte, und der Chef wußte genau, wie es um den Kommissär stand.
    »Nun, Kommissär«, begann Lutz, »wie geht's?
    Wir mußten ja zeitweilig das Schlimmste befürchten.«
    »Langsam aufwärts«, antwortete Bärlach und verschränkte wieder die Hände hinter dem Nacken.
    »Was lesen Sie denn da?« fragte Lutz, der nicht gern aufs eigentliche Thema seines Besuches kam und nach einer Ablenkung suchte: »Ei, Bärlach, sieh da, medizinische Zeitschriften!«
    Der Alte war nicht verlegen: »Das liest sich wie ein Kriminalroman«, sagte er. »Man erweitert ein 166
    wenig seinen Horizont, wenn man krank ist, und sieht sich nach neuen Gebieten um.«
    Lutz wollte wissen, wie lange denn Bärlach nach Meinung der Ärzte noch das Bett hüten müsse.
    »Zwei Monate«, gab der Kommissär zur Ant-
    wort, »zwei Monate soll Ich noch liegen.«
    Nun mußte der Chef, ob er wollte oder nicht, mit der Sprache heraus. »Die Altersgrenze«, brachte er mühsam hervor. »Die Altersgrenze, Kommissär, Sie verstehen, wir kommen wohl nicht mehr darum herum, denke ich, wir haben da unsere Gesetze.«
    »Ich verstehe«, antwortete der Kranke und verzog nicht einmal das Gesicht.
    »Was sein muß, muß sein«, sagte Lutz. »Sie müssen sich schonen, Kommissär, das ist der Grund.«
    »Und die moderne wissenschaftliche Kriminalistik, wo man den Verbrecher findet wie ein etiket-tiertes Konfitürenglas«, meinte der Alte, Lutz etwas korrigierend. Wer nachrücke, wollte er noch wissen.
    »Röthlisberger«, antwortete der Chef. »Er hat ja Ihre Stellvertretung schon übernommen.«
    Bärlach nickte. »Der Röthlisberger. Der wird mit seinen fünf Kindern auch froh sein über das bes sere Gehalt«, sagte er. »Von Neujahr an?«
    »Von Neujahr an«, bestätigte Lutz.
    Noch bis Freitag also, sagte Bärlach, und dann 167
    sei er Kommissär gewesen. Er sei froh, daß er nun den Staatsdienst hinter sich habe, sowohl den türkischen als auch den bernischen. Nicht gerade, weil er jetzt wohl mehr Zeit habe, Moliere zu lesen und Balzac, was sicher auch schön sei, aber der Hauptgrund bleibe doch, daß die bürgerliche Weltordnung auch nicht mehr das Wahre sei. Er kenne sich aus in den Affären. Die Menschen seien immer gleich, ob sie nun am Sonntag in die Hagia Sophia oder ins Berner Münster gingen. Man lasse die großen Schurken laufen und stecke die kleinen ein. Überhaupt gebe es einen ganzen Haufen Verbrechen, die man nicht beachte, nur weil sie etwas ästhetischer seien als so ein ins Auge springender Mord, der überdies noch in die Zeitung komme, die aber beide aufs gleiche hinausliefen, wenn man's genau nehme und die Phantasie habe.
    Die Phantasie, das sei es eben, die Phantasie! Aus lauter Phantasiemangel begehe ein braver
    Geschäftsmann zwischen dem Aperitif und dem Mittagessen oft mit irgendeinem geris senen Geschäft ein Verbrechen, das kein Mensch ahne und der Geschäftsmann am wenigsten, weil
    niemand die Phantasie besitze, es zu sehen. Die Welt sei aus Nachlässigkeit schlecht und daran, aus Nachlässigkeit zum Teufel zu gehen. Diese Gefahr sei noch größer als der ganze Stalin und alle übrigen Josephe zusammengenommen. Für einen alten Spürhund wie ihn sei der Staatsdienst 168
    nicht mehr gut. Zuviel kleines Zeug, zuviel Schnüffelei; aber das Wild, das rentiere und das man jagen sollte, die wirklich großen Tiere, meine er, würden unter Staatsschutz genommen wie im zoologischen Garten.
    Der Doktor Lucius Lutz machte ein langes Ge -
    sicht, als er diese Rede hörte; das Gespräch kam ihm peinlich vor, und eigentlich fand er es

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