Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
verschränkte die 153
Hände hinter dem Kopf. Er hatte die Augen weit offen und sah der Nacht zu, die immer mehr das Zimmer füllte. Licht machte er nicht.
Später kam die Schwester und brachte das
Essen. Es war immer noch wenig und Diät:
Haferschleimsuppe. Den Lindenblütentee, den er nicht mochte, ließ er stehen. Nachdem er die Suppe ausgelöffelt hatte, löschte er das Licht und sah von neuem in die Dunkelheit, in die immer undurchdringlicheren Schatten.
Er liebte es, die Lichter der Stadt durchs Fenster fallen zu sehen.
Als die Schwester kam, den Kommissär für die Nacht herzurichten, schlief er schon.
Am Morgen um zehn kam Hungertobel.
Bärlach lag in seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf, und auf der Bettdecke lag die Zeitschrift aufgeschlagen. Seine Augen waren aufmerksam auf den Arzt gerichtet. Hungertobel sah, daß es das Bild aus dem Konzentrationslager war, das der Alte vor sich hatte.
»Willst du mir nicht sagen, warum du bleich geworden bist wie ein Toter, als ich dir dieses Bild im >Life< zeigte?« fragte der Kranke.
Hungertobel ging zum Bett, nahm die Tabelle herunter, studierte sie aufmerksamer denn ge-wöhnlich und hing sie wieder an ihren Platz. »Es war ein lächerlicher Irrtum, Hans«, sagte er.
»Nicht der Rede wert.«
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»Du kennst diesen Doktor Nehle?« Bärlachs Stimme klang seltsam erregt.
»Nein«, antwortete Hungertobel. »Ich kenne ihn nicht. Er hat mich nur an jemanden erinnert.«
Die Ähnlichkeit müsse groß sein, sagte der Kommissär.
Die Ähnlichkeit sei groß, gab der Arzt zu und schaute sich das Bild noch einmal an, von neuem beunruhigt, wie Bärlach deutlich sehen konnte.
Aber die Fotografie zeige auch nur die Hälfte des Gesichts. Alle Ärzte glichen sich beim Operieren, sagte er.
»An wen erinnert dich denn diese Bestie?«
fragte der Alte unbarmherzig.
»Das hat doch alles keinen Sinn!« antwortete Hungertobel. »Ich habe es dir gesagt, es muß ein Irrtum sein.«
»Und dennoch würdest du schwören, daß er es ist, nicht wahr, Samuel?«
Nun ja, entgegnete der Arzt. Er würde es schwö-
ren, wenn er nicht wüßte, daß es der Verdächtige nicht sein könne. Sie sollten diese ungemütliche Sache jetzt lieber sein lassen. Es tue nicht gut, kurz nach einer Operation, bei der es auf Tod und Leben gegangen sei, in einem alten »Life« zu blättern.
Dieser Arzt da, fuhr er nach einer Weile fort und beschaute sich das Bild wie hypnotisiert von neuem, könne nicht der sein, den er kenne, weil der Betreffende während des Krieges in Chile ge-155
wesen sei. Also sei das Ganze Unsinn, das sehe doch ein jeder.
»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach. »Wann ist er denn zurückgekommen, dein Mann, der nicht in Frage kommt, Nehle zu sein?«
»Fünfundvierzig.«
»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach von neuem.
»Und du willst mir nicht sagen, an wen dich das Bild erinnert?«
Hungertobel zögerte mit der Antwort. Die Angelegenheit war dem alten Arzt peinlich.
»Wenn ich dir den Namen sage, Hans«, brachte er endlich hervor, »wirst du Verdacht gegen den Mann schöpfen.«
»Ich habe gegen ihn Verdacht geschöpft«, antwortete der Kommissär.
Hungertobel seufzte. »Siehst du, Hans«, sagte er,
»das habe ich befürchtet. Ich möchte das nicht, verstehst du? Ich bin ein alter Arzt und möchte niemandem Böses getan haben. Dein Verdacht ist ein Wahnsinn. Man kann doch nicht auf eine bloße Fotografie hin einen Menschen einfach verdächtigen, um so weniger, als das Bild nicht viel vom Gesicht zeigt. Und außerdem war er in Chile, das ist eine Tatsache.«
Was er denn dort gemacht habe, warf der Kommissär ein.
Er habe in Santiago eine Klinik geleitet, sagte Hungertobel.
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»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach wieder. Das sei ein gefährlicher Kehrreim und schwer zu überprüfen. Samuel habe recht, ein Verdacht sei etwas Schreckliches und komme vom Teufel.
»Nichts macht einen so schlecht wie ein Verdacht«, fuhr er fort, »das weiß ich genau, und ich habe oft meinen Beruf verflucht. Man soll sich nicht damit einlassen. Aber jetzt haben wir den Verdacht, und du hast ihn mir gegeben. Ich gebe ihn dir gern zurück, alter Freund, wenn auch du deinen Verdacht fallenläßt; denn du bist es, der nicht von diesem Verdacht loskommt.«
Hungertobel setzte sich an des Alten Bett. Er schaute hilflos nach dem Kommissär. Die Sonne fiel in schrägen Strahlen durch die Vorhänge ins Zimmer.
Draußen war ein schöner Tag, wie oft in diesem milden Winter.
»Ich kann
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