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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sollte; denn da kam in der Nähe der Stadt Eisleben jener schöne Maientag mit dem blühenden Flieder, unter den ich mich verkroch. — Das sind die Taten des vielgewanderten Mannes, der vor dir sitzt an deinem Bett, Kommissar, seine Leiden und seine Reisen durch die blutigen Meere des Unsinns die -
    ser Epoche, und immer noch wird das Wrack meines Leibes und meiner Seele weitergeschwemmt durch die Strudel unserer Zeit, die Millionen um Millionen verschlingen, Unschuldige und
    Schuldige gleichermaßen. Aber nun ist auch die zweite Flasche Wodka leergetrunken, und es ist notwendig, daß Ahasver den Weg über die Staats -
    straße des Mauervorsprung s und des Kännels zu -
    rück zum feuchten Keller in Feitelbachs Hause nimmt.«
    Der Alte jedoch ließ Gulliver, der sich erhoben hatte und dessen Schatten das Zimmer bis zur Hälfte in Dunkelheit hüllte, noch nicht gehen.
    Was Nehle denn für ein Mensch gewesen sei, fragte er, und seine Stimme war kaum mehr denn ein Flüstern.
    »Christ«, sagte der Jude, der die Flaschen und die Glaser wieder in seinem schmutzigen Kaftan verborgen hatte. »Wer wüßte auf deine Frage zu antworten? Nehle ist tot, er hat sich bloß das Leben genommen, sein Geheimnis ist bei Gott,
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    der über Himmel und Hölle regiert, und Gott gibt seine Geheimnisse nicht mehr her, nicht einmal den Theologen. Es ist tödlich, nachzuforschen, wo es nur Totes gibt. Wie oft habe ich mich bemüht, hinter die Maske dieses Arztes zu schleichen, mit dem kein Gespräch möglich war, der auch mit niemandem von der SS oder von den anderen Ärzten verkehrte, geschweige denn mit einem Häftling!
    Wie oft versuchte ich zu ergründen, was hinter seinen funkelnden Brillengläsern vor sich ging!
    Was sollte ein armer Jude wie ich tun, wenn er seinen Peiniger nie anders als mit halbverhülltem Gesicht im Operationskittel sah? Denn so, wie ich unter Lebensgefahr Nehle fotografiert habe —
    nichts war gefährlicher, als im Konzentrationslager zu fotografieren — war er stets: eine in Weiß ge-hüllte, hagere Gestalt, die leicht gebückt und lautlos, wie aus Furcht, sich anzustecken, in diesen Baracken voll grauser Not und Jammers herumging.
    Er war darauf aus, vorsichtig zu sein, denke ich. Er rechnete wohl immer damit, daß eines schönen Tages der ganze infernalische Spuk der Konzentrationslager verschwinden würde — um anderswo wie ein Aussatz mit anderen Peinigern und anderen politischen Systemen aufs neue aus den Tiefen des menschlichen Instinkts hervorzubrechen. So mußte er seit jeher seine Flucht ins Privatleben vorbereitet haben, als sei er in der Hölle nur fakultativ angestellt. Danach habe ich meinen
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    Schlag berechnet, Kommissar, und ich habe gut ge-zielt: Als das Bild im >Life< erschien, hat Nehle sich erschossen; es genügte dazu, daß die Welt seinen Namen wußte, Kommissar, denn wer vorsichtig ist, verbirgt seinen Namen (das war das letzte, was der Alte von Gulliver hörte, es war wie der Schlag einer ehernen Glocke, schrecklich dröhnend im Ohr des Kranken), seinen Namen!«
    Nun tat der Wodka seine Wirkung. Zwar war dem Kranken noch, als ob sich die Vorhänge da drüben am Fenster wie die Segel eines dahinschwindenden Schiffes blähten, als ob ferner das Rasseln eines Rolladens vernehmbar sei, der sich in die Höhe schob; dann, noch undeutlicher, als ob ein riesenhafter, massiger Leib hinab in die Nacht tauche; aber dann, da durch die klaffende Wunde des offenen Fensters die unabsehbare Fülle der Sterne brach, stieß im Alten ein unbändiger Trotz hoch, in dieser Welt zu bestehen und für eine andere, bessere, zu kämpfen, zu kämpfen auch mit diesem seinem jammervollen Leib, an welchem der Krebs fraß, gierig und unaufhaltsam, und dem man noch ein Jahr gab und nicht mehr, grölend sang er, als der Wodka wie Feuer in seinen Eingeweiden zu brennen anfing, den Berner Marsch hinein in die Stille des Spitals, daß die Kranken unruhig wurden.
    Nichts Kräftigeres fiel ihm ein; doch war er dann, als die fassungslose Nachtschwester hereinstürzte, schon eingeschlafen.
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    Die Spekulation
    Am ändern Morgen, es war Donnerstag, erwachte Bärlach, wie vorauszusehen war, erst gegen zwölf, kurz bevor das Mittagessen gebracht wurde. Sein Kopf schien ihm ein wenig schwer, aber sonst fühlte er sich wohl wie lange nicht und dachte, hin und wieder ein richtiger Schluck Schnaps sei doch das beste, besonders wenn man schon im Bett liege und nicht trinken dürfe. Auf dem Nachttisch lag die Post; Lutz hatte

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