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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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verflucht bin, alles zu überstehen; und aus übergroßer Dankbarkeit habe ich denn nicht gezögert, ihn zu verraten, indem ich ihn fotografierte. In dieser verkehrten Welt gibt es Wohltaten, die man nur mit
    Schurkereien bezahlen kann.«
    »Ich verstehe nicht, was du da erzählst«, entgegnete der Kommissär, der nicht recht wußte, ob dabei der Wodka im Spiele stand oder nicht.
    Der Riese lachte und holte eine zweite Flasche aus seinem Kaftan. »Verzeih«, sagte er, »ich mache lange Sätze, aber meine Qualen waren noch länger. Es ist einfach, was ich sagen will: Nehle hat mich operiert. Ohne Narkose. Mir wurde 194
    diese unerhörte Ehre zuteil. Verzeih zum zweiten-mal, Kommissar, aber ich muß Wodka trinken und dies wie Wasser, wenn ich daran denke, denn es war scheußlich.«
    »Teufel«, rief Bärlach aus, und dann noch einmal in die Stille des Spitals hinein: »Teufel.« Er hatte sich halb aufgerichtet und hielt dem Ungeheuer, das an seinem Bette saß, mechanisch das leere Glas hin.
    »Die Geschichte braucht nichts als ein wenig Nerven, sie zu vernehmen; aber weniger, als sie zu erleben«, fuhr der Jude im alten, verschimmelten Kaftan mit singendem Tone fort. »Man solle die Dinge endlich vergessen, sagt man, und dies nicht nur in Deutschland; in Rußland kämen jetzt auch Grausamkeiten vor, und Sadisten gäbe es überall; aber ich will nichts vergessen und dies nicht nur, weil ich ein Jude bin — sechs Millionen meines Volkes haben die Deutschen getötet, sechs Millionen! —; nein, weil ich immer noch ein Mensch bin, auch wenn ich in meinen
    Kellerlöchern mit den Ratten lebe! Ich weigere mich, einen Unterschied zwischen den Völkern zu machen und von guten und schlechten Nationen zu sprechen; aber einen Unterschied zwischen den Menschen muß ich machen, das ist mir
    eingeprügelt worden, und vom ersten Hieb an, der in mein Fleisch fuhr, habe ich zwischen Peinigern und Gepeinigten unterschieden. Die neuen
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    Grausamkeiten anderer Wärter in anderen Ländern ziehe ich nicht von der Rechnung ab, die ich den Nazis entgegenhalte und die sie mir bezahlen müssen, sondern ich zähle sie dazu. Ich nehme mir die Freiheit, nicht zwischen denen zu unterscheiden, die quälen. Sie haben alle dieselben Augen. Wenn es einen Gott gibt, Kommissar, und nichts erhofft mein geschändetes Herz mehr, so sind vor ihm keine Völker, sondern nur Menschen, und er wird jeden nach dem Maß seiner
    Verbrechen richten und nach dem Maß seiner Gerechtigkeit freisprechen. Christ, Christ, vernimm, was ein Jude dir erzählt, dessen Volk euren Heiland gekreuzigt hat und der nun mit seinem Volk von den Christen ans Kreuz
    geschlagen wurde: Da lag ich im Elend meines Fleisches und meiner Seele im Konzentrationslager Stutthof, in einem Vernichtungslager, wie man sie nennt, in der Nahe der altehrwürdigen Stadt Danzig, der zuliebe dieser verbrecherische Krieg ausgebrochen war, und dort ging es dann radikal zu. Jehova war fern, mit anderen Welten beschäftigt, oder er studierte an einem theologischen Problem herum, das gerade seinen erhabenen Geist in Anspruch nahm, kurz, um so übermütiger wurde sein Volk in den Tod getrieben, vergast und erschossen, je nach Laune der SS und wie's die Witterung ergab: bei Ostwind wurde gehenkt, und bei Südwind hetzte man Hunde auf Juda.

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    Da war denn also auch dieser Doktor Nehle vorhanden, auf dessen Schicksal du so begierig bist, Mann einer sittlichen Weltordnung. Er war einer der Lagerärzte, von denen es in jedem Lager ganze Ge schwüre voll gab; Schmeißfliegen, die sich mit wissenschaftlichem Eifer dem
    Massenmord hin gaben, die Häftlinge zu Hunderten mit Luft, Phenol, Karbolsäure und was sonst noch zu diesem infernalischen Vergnügen zwischen Himmel und Erde zur Verfügung stand,
    abspritzten, oder gar, wenn es darauf ankam, ihre Versuche am Menschen ohne Narkose ausführten, aus Not, wie sie versicherten, da der dicke Reichsmarschall ja die Vivisektion an Tieren verboten hatte. Nehle befand sich demnach nicht allein. — Es wird nun nötig sein, daß ich von ihm spreche. Ich habe mir im Verlauf meiner Reise durch die verschiedenen Lager die Peiniger genau angesehen und lernte, wie man so sagt, meine Brüder kennen. Nehle zeichnete sich in seinem Metier in vielem aus. Die Grausamkeit der andern machte er nicht mit. Ich muß zugeben, daß er den Gefangenen half, so gut dies möglich war und soweit dies in einem Lager, dessen Bestimmung darin bestand, alles zu vernichten, überhaupt noch einen

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