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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Zweck hatte. Er war in einem ganz andern Sinn als die ändern Ärzte fürchterlich, Kommissar.
    Seine Experimente zeichneten sich nicht durch erhöhte Quälereien aus ; auch bei den andern 197
    starben die kunstvoll gefesselten Juden brüllend unter den Messern am Schock, den die Schmerzen auslösten, und nicht an der ärztlichen Kunst. Seine Teufelei war, daß er all dies mit der Zustimmung seiner Opfer ausführte. So unwahrscheinlich es ist, Nehle operierte nur Juden, die sich freiwillig meldeten, die genau wußten, was ihnen bevorstand, die sogar, das setzte er zur Bedingung, den Operationen beiwohnen mußten, um die vollen Schrecken der Tortur zu sehen, bevor sie ihre Zustimmung geben konnten, nun dasselbe zu erleiden.«
    »Wie war dies möglich?« fragte Bärlach
    atemlos.
    »Die Hoffnung«, lachte der Riese, und seine Brust hob und senkte sich. »Die Hoffnung, Christ.«
    Seine Augen funkelten in einer unergründlichen, tierhaften Wildheit, die Narben seines Gesichts hoben sich überdeutlich ab, die Hände lagen g leich Tatzen auf Bärlachs Bettdecke, der zerschlagene Mund, der gierig immer neue Mengen Wodka in diesen geschändeten Leib sog, stöhnte in weltferner Trauer: »Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, wie es so schon im Korinther dreizehn heißt. Aber die Hoffnung ist die zäheste unter ihnen, das steht bei mir, dem Juden Gulliver, mit roten Malen in mein Fleisch gezeichnet. Die Liebe und der Glaube, die gingen in Stutthof zum Teufel, aber die Hoffnung, die blieb, mit der ging man zum Teufel. Die Hoffnung, die Hoffnung! Die hatte Nehle fixfertig in der Tasche und bot sie jedem,
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    der sie haben wollte, und es wollten sie viele haben. Es ist nicht zu glauben, Kommissar, aber Hunderte ließen n sich von Nehle ohne Narkose operieren, nachdem sie zitternd und totenbleich ihren Vordermann auf dem Operationstisch hatten krepieren sehen und immer noch nein sagen konnten, und dies alles auf die bloße Hoffnung hin, die Freiheit zu erlangen, wie ihnen Nehle versprach.
    Die Freiheit! Wie muß der Mensch sie lieben, daß er alles zu dulden gewillt ist, sie zu bekommen, so sehr, daß er auch damals in Stutthof freiwillig in die flammendste Hölle ging, nur um diesen erbärmlichen Bankert von Freiheit zu umarmen, der ihm da geboten wurde. Die Freiheit ist bald eine Dirne und bald eine Heilige, für jeden etwas anderes, für einen Arbeiter etwas anderes, für einen Geistlichen etwas anderes, für einen Bankier etwas anderes und für einen armen Juden in einem Vernichtungslager, wie Auschwitz, Lublin, Maidanek, Natzweiler und Stutthof, wieder etwas anderes: Da war Freiheit alles, was außerhalb dieses Lagers war, aber nicht Gottes schöne Welt, o nein, man hoffte in grenzenloser Bescheidenheit nur, wieder nach einem so angenehmen Ort wie Buchenwald oder Dachau zurückversetzt zu
    werden, in denen man jetzt die goldene Freiheit sah, wo man nicht Gefahr lief, vergast, sondern nur zu Tode geprügelt zu werden; wo noch Tausendstel Promille Hoffnung
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    bestand, durch einen unwahrscheinlichen Zufall doch gerettet zu werden, gegenüber der absoluten Sicherheit des Todes in den Vernichtungslagern.
    Mein Gott, Kommissar, laß uns kämpfen, daß die Freiheit für alle das gleiche wird, daß sich keiner vor dem ändern für seine Freiheit zu schämen hat!
    Es ist zum Lachen: die Hoffnung, in ein anderes Konzentrationslager zu kommen, trieb die Leute in Massen, oder wenigstens in größerer Zahl, auf Nehles Schinderbrett; es ist zum Lachen (hier stimmte der Jude wirklich ein Hohngelächter der Veizweiflung an und der Wut), und auch ich, Christ, habe mich auf den blutigen Schrägen gelegt, sah Nehles Messer und seine Zangen im Lichte des Scheinwerfers schattenhaft über mir und tauchte dann unter in die unendlich abgestuften Orte der Qualen, in diese gleißenden
    Spiegelkabinette der Schmerzen, die uns immer qualvoller enthüllen! Auch ich ging hinein zu ihm in der Hoffnung, doch noch einmal davonzu-kommen, doch noch einmal dieses gottverfluchte Lager zu verlassen; denn, da sich dieser famose Psychologe Nehle sonst als hilfsbereit und zu -
    verlässig erwies, glaubte man ihm in diesem Punkt, wie man stets an ein Wunder glaubt, wenn die Not am größten ist. Wahrlich, wahrlich, er hat Wort gehalten! Als ich als einziger eine sinnlose Magenresektion überstand, ließ er mich gesund-pflegen und schickte mich in den ersten Tagen des 200
    Februars nach Buchenwald zurück, das ich jedoch nach endlosen Transporten nie erreichen

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