Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
finanziert —
wieder einmal seinen »Apfelschuß« herausgegeben, ein besonders trauriges Exemplar freilich, da er darin einen von der Ärzteschaft als absurd be-zeichneten Angriff gegen einen unbekannten, wahrscheinlich erfundenen Arzt richtete, in der herostratischen Absicht, unter allen Umständen einen Skandal zu erregen. Wie erfunden der ganze Angriff war, geht schon daraus hervor, daß der Schriftsteller, der im Artikel pathetisch den nicht-genannten Arzt aufforderte, sich der Stadtpolizei Zürich zu stellen, gleichzeitig überall herum-schwatzte, er wolle für zehn Tage nach Paris ver-reisen, doch kam er nicht dazu. Schon um einen Tag hatte er die Abreise verschoben und gab nun in der Nacht auf den Mittwoch in seiner armseligen Wohnung in der Keßlergasse ein Abschieds-293
essen, dem der Musiker Bötzinger und die Studenten Friedling und Stürler beiwohnten. Gegen vier Uhr morgens begab sich Fortschig — er war schwer betrunken — in die Toilette, die sich auf der anderen Seite des Korridors gegenüber seinem Zimmer befindet. Da er die Türe zu seinem Arbeitsraum offenließ, man wollte die Schwaden beißenden Tabakrauchs etwas verziehen las sen, war die Türe der Toilette allen drei sichtbar, die an Fortschigs Tisch weiterzechten, ohne daß ihnen etwas besonders auffiel. Beunruhigt, als er nach einer halben Stunde noch nicht zurückgekommen war und als er auf ihr Rufen und Klopfen nicht antwortete, rüttelten sie an der verschlossenen Toilettentüre, ohne sie öffnen zu können. Der Polizist Gerber und der Securitaswächter
Brenneisen, die Bötzinger von der Straße herauf-holte, erbrachen die Türe mit Gewalt: Man fand den Unglücklichen tot auf dem Boden zusammen-gekrümmt. Über den Hergang des Unglücks ist man sich nicht im klaren. Doch kommt ein Verbrechen nicht in Frage, wie in der heutigen Presse-orientierung der Untersuchungsrichter Lutz feststellte. Weist die Untersuchung zwar darauf hin, daß irgendein harter Gegenstand von oben Fort -
schig traf, so wird dies durch den Ort unmöglich gemacht. Der Lichtschacht, gegen den sich das kleine Toilettenfenster öffnet (die Toilette befindet sich im vierten Stock), ist schmal, und es ist un-294
möglich, daß ein Mensch dort hinauf- oder hin-unterklettern könnte: entsprechende Experimente der Polizei beweisen dies eindeutig. Auch mußte die Türe von innen verriegelt worden sein, denn die bekannten Kunstgriffe, mit denen dies vorgetäuscht werden könnte, fallen nicht in Betracht.
Die Türe ist ohne Schlüsselloch und mit einem schweren Riegel schließbar. Es bleibt keine Erklä-
rung, als einen unglücklichen Sturz des Schriftstellers anzunehmen, um so mehr, da er ja, wie Professor Dettling ausführte, sinnlos betrunken war.«
Kaum hatte dies der Alte gelesen, ließ er die Zeitung fallen. Seine Hände verkrallten sich in der Bettdecke.
»Der Zwerg, der Zwerg!« schrie er ins Zimmer hinein, da er mit einem Schlag begriffen hatte, wie Fortschig umgekommen war.
»Ja, der Zwerg«, antwortete eine ruhige, über-legene Stimme von der Türe her, die sich unmerklich geöffnet hatte.
»Sie werden mir zugeben, Herr Kommissär, daß ich mir einen Henker zugelegt habe, den man kaum so leicht finden dürfte.«
In der Türe stand Emmenberger.
295
Die Uhr
Der Arzt schloß die Türe.
Er war nicht im Berufsmantel, wie ihn der Kommissär zuerst gesehen hatte, sondern in einem dunklen, gestreiften Anzug mit weißer Krawatte auf einem silbergrauen Hemd, eine sorgfältig her-gerichtete Erscheinung, fast geckenhaft, um so mehr, da er dicke gelbe Lederhandschuhe trug, als fürchte er, sich zu beschmutzen.
»Da wären wir Berner also einmal unter uns«, sagte Emmenberger und machte vor dem hilflosen, skelettartigen Kranken eine leichte, mehr höfliche als ironische Verbeugung. Dann ergriff er einen Stuhl, den er hinter dem zurückgeschlagenen Vorhang hervorholte und den Bärlach aus diesem Grunde nicht hatte sehen können. Der Arzt setzte sich an des Alten Bett, indem er die Stuhllehne gegen den Kommissär kehrte, so daß er sie an seine Brust pressen und die verschränkten Arme darauflegen konnte. Der Alte hatte sich wieder gefaßt. Sorgfältig griff er nach der Zeitung, die er zusammenfaltete und auf den Nachttisch legte, 296
dann verschränkte er nach alter Gewohnheit seine Arme hinter dem Kopf,
»Sie haben den armen Fortschig töten lassen«, sagte Bärlach.
»Wenn einer mit so pathetischer Feder ein Todesurteil niederschreibt, gehört ihm wohl ein
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