Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
hartnäckig.
»Sie haben den Bericht unter Ihrem Bild im
>Bund< gelesen?«
Bärlach schwieg einen Augenblick und dachte nach, was denn Emmenberger mit dieser Frage wolle.
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»Ich lese keine Zeitungen.«
»Es hieß darin, mit Ihnen sei eine stadtbekannte Persönlichkeit zurückgetreten«, sagte Emmenberger, »und trotzdem hat Sie Hungertobel unter dem Namen Blaise Kramer bei uns eingeliefert.«
Der Kommissär gab sich keine Blöße. Er habe sich bei ihm unter diesem Namen angemeldet.
»Auch wenn er mich einmal gesehen hätte,
konnte er mich kaum wiedererkennen/ da ich durch die Krankheit verändert worden bin.«
Der Arzt lachte. »Sie behaupten. Sie seien krank geworden, um mich hier auf dem Sonnenstein aufzusuchen?«
Bärlach gab keine Antwort.
Emmenberger sah den Alten traurig an. »Mein lieber Kommissär«, fuhr er fort, mit einem leisen Vorwurf in der Stimme, »Sie kommen mir in unserem Verhör auch gar nicht entgegen.«
»Ich habe Sie zu verhören, nicht Sie mich«, entgegnete der Kommissär trotzig.
»Sie atmen schwer«, stellte Emmenberger be-kümmert fest.
Bärlach antwortete nicht mehr. Nur das Ticken der Uhr war zu vernehmen, das erste Mal, daß es der Alte hörte. Nun werde ich es immer wieder hören, dachte er.
»Wäre es nicht an der Zeit, einmal Ihre Niederlage zuzugeben?« fragte der Arzt freundlich.
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»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, antwortete Bärlach todmüde, indem er die Hände hinter dem Kopf hervorholte und sie auf die Decke legte. »Die Uhr, wenn nur die Uhr nicht wäre.«
»Die Uhr, wenn nur die Uhr nicht wäre«, wiederholte der Arzt des Alten Worte. »Was treiben wir uns im Kreise herum? Um sieben werde ich Sie töten. Das wird Ihnen die Sache so weit er-leichtern, daß Sie den Fall Emmenberger—Bärlach unvoreingenommen mit mir betrachten können.
Wir sind beide Wissenschaftler mit entgegen-gesetzten Zielen, Schachspieler, die an einem Brett sitzen. Ihr Zug ist getan, nun kommt der meine.
Aber eine Besonderheit hat unser Spiel: Entweder wird einer verlieren oder beide. Sie haben Ihr Spiel schon verloren, nun bin ich neugierig, ob ich das meine auch verlieren muß.«
»Sie werden das Ihre verlieren«, sagte Bar lach.
Emmenberger lachte. »Das ist möglich. Ich wäre ein schlechter Schachspieler, wenn ich nicht mit dieser Möglichkeit rechnete. Aber sehen wir doch genauer hin. Sie haben keine Chance mehr, um sieben werde ich mit meinen Messern kommen, und kommt es nicht dazu (wenn es der Zufall will), sterben Sie in einem Jahr an Ihrer Krankheit; doch meine Chance, wie steht es damit? Schlimm genug, ich gebe es zu: Sie sind ja schon auf meiner Spur!«
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Der Arzt lachte aufs neue.
Dies scheine ihm Spaß zu machen/ stellte der Alte erstaunt fest. Der Arzt kam ihm immer seltsamer vor.
»Ich gebe zu, daß es mich amüsiert, mich wie eine Fliege in Ihrem Netz zappeln zu sehen, um so mehr, als Sie gleichzeitig in meinem Netz hängen.
Doch sehen wir weiter: Wer hat Sie auf meine Spur gebracht?«
Er sei von selbst darauf gekommen, behauptete der Alte.
Emmenberger schüttelte den Kopf. »Gehen wir doch zu glaubwürdigeren Dingen über«, sagte er.
»Auf meine Verbrechen — um diesen populären Ausdruck zu brauchen — kommt man nicht von selbst, wie wenn dergleichen einfach aus dem heiteren Himmel heraus möglich wäre. Und sicher dann vor allem nicht, wenn man noch gar ein Kommissär der Stadtpolizei Bern ist/ als ob ich einen Fahrraddiebstahl oder eine Abtreibung begangen hätte. Sehen wir uns doch einmal meinen Fall an — Sie, der Sie ja nun keine Chance mehr haben, dürfen die Wahrheit vernehmen, das Vorrecht der Verlorenen. Ich war vorsichtig, gründlich und pedantisch — in dieser Hinsicht habe ich saubere Facharbeit geleistet —, aber trotz aller Vorsicht gibt es natürlich Indizien gegen mich. Ein indizienloses Verbrechen ist in dieser Welt des Zufalls unmöglich. Zählen wir auf: Wo konnte
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der Kommissär Hans Bärlach einsetzen? Da ist einmal die Fotografie im >Life<. Wer die Tollkühnheit hatte, sie in jenen Tagen zustande zu bringen, weiß ich nicht; es genügt mir, daß sie vorhanden ist. Schlimm genug. Doch wollen wir die Sache nicht übertreiben. Millionen haben einmal diese berühmte Fotografie gesehen, darunter sicher viele, die mich kennen: und doch hat mich bis jetzt keiner erkannt, das Bild zeigt zu wenig von meinem Gesicht. Wer konnte mich nun erkennen?
Entweder einer, der mich in Stutthof gesehen hat und mich hier
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