Der Richter
Schrift eines Wahnsinnigen: »Du brauchst kein Flugzeug. Hör auf, das Geld zu verprassen.«
Diese Burschen waren sehr, sehr gut. Es war schwierig genug gewesen, die drei Lagerabteile bei Chaney’s zu finden und zu fotografieren. Kühn und gleichzeitig dumm war es, die Bonanza in Brand zu stecken. Merkwür-digerweise beeindruckte ihn im Augenblick am meisten, dass es ihnen gelungen war, aus dem Sekretariat der Fakultät einen FedEx-Luftfrachtbrief zu entwenden.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Schock gelegt hatte. Dann wurde ihm etwas klar, an das er sofort hätte denken müssen. Nachdem sie nun auch Abteil 18 R gefunden hatten, wussten sie, dass das Geld nicht in Charlottesville war - weder bei Chaneys noch in seiner Wohnung. Sie waren ihm von Virginia nach Clanton gefolgt, und wenn er unterwegs angehalten hät-te, um das Geld zu verstecken, hätten sie das gewusst. Vermutlich hatten sie Maple Run erneut durchsucht, während er sich an der Küste aufhielt.
Das Netz zog sich stündlich enger zusammen. Alle Hinweise wurden miteinander in Verbindung gebracht, die Linien zwischen den einzelnen Punkten gezogen. Das Geld konnte nur bei ihm sein. Und Ray hatte keinen Ort, an den er sich hätte flüchten können.
Als Juraprofessor hatte er ein durchaus annehmbares Gehalt und genoss zusätzliche Vergünstigungen. Sein Lebensstil war nicht sehr aufwändig.
Während er immer noch ohne Hemd und Schuhe auf der Veranda saß und in der feuchten Luft des frühen Abends eines langen, heißen Junitages sein Bier schlürfte, beschloss er, dass er genau dieses Leben weiterführen wollte. Gewalt überließ er lieber Leuten wie Gordie Priest und den von Patton French engagierten Auftragskillern. Ray war in diesem Umfeld nicht in seinem Element.
Außerdem war es ohnehin schmutziges Geld.
»Wieso parkst du in deinem Vorgarten?«, grummelte Harry Rex, während er die Stufen hinauftrampelte.
»Ich habe das Auto gewaschen und dann dort stehen lassen.« Ray hatte inzwischen geduscht und trug Shorts und ein T-Shirt.
»Manche Leute haben einfach keine Kultur. Gib mir ein Bier.«
Harry Rex hatte sich den ganzen Tag im Gericht herumgeärgert - eine hässliche Scheidung, bei der es vor allem darum ging, welcher Ehepartner vor zehn Jahren am meisten Haschisch geraucht und am meisten herumge-vögelt hatte. Das Sorgerecht für die vier Kinder wurde verhandelt, und keines der Elternteile war als Erziehungsberechtigter geeignet.
»Ich bin zu alt für so was«, sagte Harry Rex sehr müde. Beim zweiten Bier nickte er kurz ein.
Er war seit fünfundzwanzig Jahren der gefragteste Scheidungsanwalt in Ford County. Verfehdete Paare stritten sich häufig darum, wer ihn zuerst kontaktiert hatte. Ein Farmer aus Karraway hatte bei ihm einen Vorschuss hinterlegt, damit er ihm bei der nächsten Trennung zur Seite stand. Harry Rex war clever, konnte aber auch gemein und beleidigend werden. Bei hitzigen Scheidungskriegen kam ihm das zugute.
Aber die Arbeit hatte ihren Preis gefordert. Wie alle Kleinstadtanwälte sehnte sich Harry Rex nach dem großen Coup, der großen Schadenersatzklage mit vierzig Prozent Erfolgshonorar, damit er endlich aufhören konnte zu arbeiten.
Am Abend zuvor hatte Ray an Bord einer von einem saudischen Prinzen gebauten Jacht mit einem Mitglied der Anwaltskammer von Mississippi, das Milliardenklagen gegen multinationale Konzerne organisierte, teuren Wein getrunken. jetzt saß er auf einer verrosteten Hollywoodschaukel und trank Budweiser mit einem Mitglied der Anwaltskammer von Mississippi, das sich den ganzen Tag über mit Sorgerecht und Alimenten herumge-schlagen hatte.
»Der Makler hat das Haus heute Morgen einem potenziellen Käufer gezeigt«, erklärte Harry Rex. »Er hat mich in der Mittagspause angerufen und aus meinem Nickerchen gerissen.«
»Wer ist der Interessent?«
»Erinnerst du dich an die Kapshaw-Jungs aus der Nähe von Rail Springs?«
»Nein.«
»Nette Kerle. Sie fingen vor zehn oder zwölf Jahren an, in einer alten Scheune Stühle zu bauen. Eins führte zum anderen, und schließlich ver-kauften sie ihr Geschäft an ein großes Möbelunternehmen oben in Carolina.
Brachte jedem von ihnen eine Million Dollar ein. Junkie und seine Frau suchen ein Haus.«
»Junkie Kapshaw?«
»Ja. Aber er ist ein alter Geizkragen und hat keine Lust, für den Schuppen vierhunderttausend hinzulegen.«
»Das kann ich ihm nicht verdenken.«
»Seine Frau ist völlig durchgeknallt und bildet sich ein, sie müsse unbedingt ein
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