Der Richter
Thema normales Leben.
Nach einem anstrengenden Vormittag mit mühseligen Verhandlungen in den Gängen des Gerichtsgebäudes von Lee County, bei denen es um Streit-punkte wie das Wasserskiboot, das Häuschen am See und die Höhe der einmaligen Zahlung ging, die die Ehefrau in bar erhalten sollte, wurde die Scheidung für den frühen Nachmittag angesetzt. Harry Rex vertrat den Ehemann, einen Cowboy mit unbezähmbarem Sexualtrieb, der glaubte, er verstünde mehr vom Scheidungsrecht als sein Anwalt. Ehefrau Nummer drei, ein in die Jahre kommendes Betthäschen Ende zwanzig, hatte ihn mit ihrer besten Freundin erwischt. Es war die übliche, trübselige Geschichte.
Harry Rex hatte den gesamten Schlamassel herzlich satt, als er an den Richtertisch trat und die hart erkämpfte Vergleichsvereinbarung vorlegte.
Der Chancellor war ein Veteran, der schon tausende Ehepaare geschieden hatte. »Das mit Richter Atlee tut mir Leid«, sagte er leise, während er die Papiere durchging. Harry Rex nickte nur. Er war müde und durstig und freute sich auf ein kaltes Bier auf dem Heimweg nach Clanton. Sein liebster Bierausschank in der Gegend von Tupelo lag in der Nähe der County-Grenze.
»Wir haben zweiundzwanzig Jahre lang zusammen gearbeitet«, sagte der Chancellor.
»Ein wunderbarer Mensch«, gab Harry Rex zurück.
»Kümmern Sie sich um den Nachlass?«
»Ja, Sir. «
»Grüßen Sie Richter Farr.«
»Das werde ich.«
Kurz darauf waren die Papiere unterzeichnet, die Ehe gnädig geschieden und die verfeindeten Eheleute in ihre jeweiligen Häuser zurückgeschickt worden. Harry Rex hatte das Gerichtsgebäude verlassen und war schon auf halbem Weg zu seinem Auto, als ihm ein Anwalt nachlief und ihn auf dem Gehweg anhielt. Er stellte sich als Jacob Spain vor, einer von tausend An-wälten in Tupelo. Er war im Gerichtssaal gewesen und hatte gehört, dass der Chancellor Richter Atlee erwähnte.
»Der hat doch einen Sohn namens Forrest, nicht wahr?«, fragte Spain.
»Zwei Söhne. Ray und Forrest.« Harry Rex holte tief Atem und fand sich damit ab, dass sich ein kurzes Gespräch nicht vermeiden lassen würde.
»Ich habe in der Highschool gegen Forrest Football gespielt, dabei hat er mir einmal bei einem Foul das Schlüsselbein gebrochen.«
»Klingt ganz nach Forrest.«
»Ich habe für New Albany gespielt. Forrest war ein Jahr unter mir. Haben Sie ihn spielen gesehen?«
»Ja, oft.«
»Erinnern Sie sich an das Spiel gegen uns, als er in der ersten Hälfte dreihundert Yards erkämpfte? Vier oder fünf Touchdowns, glaube ich.«
»Ja.« Harry Rex wurde allmählich unruhig. Wie lange sollte das noch dauern?
»Ich spielte damals als Verteidiger, und er feuerte in alle Richtungen Pässe ab. Einen davon griff ich mir unmittelbar vor der Halbzeit und brachte ihn nach vorn. Forrest stürzte sich auf mich, als ich am Boden lag.«
»Das war eines seiner Lieblingsspielchen.« Spät und hart zuschlagen, das war Forrests Motto gewesen, vor allem, wenn ein unglückseliger Verteidiger einen seiner Pässe abgefangen hatte.
»Ich glaube, in der Woche darauf wurde er verhaftet«, fuhr Spain fort.
»Was für eine Vergeudung! Auf jeden Fall habe ich ihn vor ein paar Wochen hier in Tupelo mit Richter Atlee gesehen.«
Harry Rex hatte es plötzlich nicht mehr eilig. Das kalte Bier war vergessen, zumindest für den Augenblick. »Wann war das?«
»Kurz vor dem Tod des Richters. Es war eine merkwürdige Szene.«
Sie gingen ein paar Schritte, bis sie den Schatten eines Baumes erreich-ten. »Ich höre.« Harry Rex lockerte seine Krawatte, den verknitterten marineblauen Blazer hatte er bereits ausgezogen.
»Die Mutter meiner Frau ist in der Taft-Klinik wegen Brustkrebs in Behandlung. An einem Montagnachmittag im Frühling fuhr ich sie wieder einmal zur Chemotherapie dorthin.«
»Richter Atlee wurde auch dort behandelt«, sagte Harry Rex. »Ich habe die Rechnungen gefunden.«
»Ja, dort habe ich ihn auch gesehen. Ich brachte meine Schwiegermutter hin, und da sie warten musste, ging ich zu meinem Auto, um ein paar Telefonate zu erledigen. Während ich dort saß, fuhr Richter Atlee in einem langen schwarzen Lincoln vor. Am Steuer saß jemand, den ich nicht sofort erkannte. Sie parkten nur zwei Autos von mir entfernt und stiegen aus. Der Fahrer kam mir bekannt vor - ein großer, kräftiger Bursche mit einem her-ausfordernden Gang, den ich schon einmal gesehen hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass es, so wie er ging und sich bewegte, Forrest sein musste.
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