Der Richter
Er trug eine Sonnenbrille und hatte eine Kappe tief ins Gesicht gezogen. Sie gingen hinein, aber Forrest war schon nach ein paar Sekunden wieder drau-
ßen.«
»Was war das für eine Kappe?«
»Eine ausgeblichene blaue Baseballkappe von den Chicago Cubs, glaube ich.«
»Die kenne ich.«
»Er war total nervös, als wollte er nicht, dass ihn jemand sieht. Er verschwand in einer Baumgruppe neben dem Klinikgebäude, so dass ich gerade noch seine Silhouette sehen konnte, und versteckte sich dort. Zuerst dachte ich, er wollte vielleicht pinkeln, aber nein, er versteckte sich. Nach etwa einer Stunde ging ich wieder hinein, holte meine Schwiegermutter ab und fuhr mit ihr davon. Da war er immer noch draußen zwischen den Bäumen.«
Harry Rex hatte seinen Taschenkalender hervorgezogen. »An welchem Tag war das?«
Spain griff nach seinem Timer, und wie es sich für viel beschäftigte An-wälte gehörte, verglichen sie ihre Unternehmungen der letzten Zeit. »Am Montag, dem 1. Mai«, entschied Spain schließlich.
»Das war sechs Tage vor dem Tod des Richters«, sagte Harry Rex.
»Ich bin mir mit dem Datum sicher. Es war eine merkwürdige Szene.«
»Nun, Forrest ist ein merkwürdiger Typ.«
»Er wird doch nicht von der Polizei gesucht, oder?«
»Nicht im Moment.« Beide brachten ein nervöses Lachen zustande.
Nun hatte Spain es plötzlich eilig. »Falls Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, ich bin immer noch sauer wegen des Fouls.«
»Ich werd’s ausrichten.«
Harry Rex sah ihm lange nach.
38
Mr. und Mrs. Vonner verließen Clanton an einem bewölkten Junimorgen in einem neuen Offroad-Geländewagen mit Allradantrieb, der angeblich die Kleinigkeit von zwanzig Litern auf hundert Kilometern schluckte und mit genügend Gepäck für vier Wochen Urlaub in Europa beladen war. Tatsächlich war ihr Ziel
der District of Columbia, wo Mrs. Vonner eine Schwester hatte, der Harry Rex noch nie begegnet war. Sie verbrachten die erste Nacht in Gatlinburg und die zweite in White Sulphur Springs in Virginia. Gegen Mittag trafen sie in Charlottesville ein, wo sie die obligatorische Tour durch Thomas Jeffersons einstiges Anwesen Monticello absolvierten, über den Campus der Universität flanierten und in einer Studentenkneipe namens White Spot, deren Spezialität Spiegelei auf Hamburger war, ein unkonventionelles Mahl zu sich nahmen. Es war die Art von Essen, die Harry Rex bevorzugte.
Am nächsten Morgen verließ er das Hotel, während seine Frau noch schlief, um sich die Fußgängerzone im Stadtzentrum anzusehen. An der gesuchten Adresse angekommen, wartete er geduldig.
Ein paar Minuten nach acht Uhr band Ray eine Doppelschleife in die Schnürsenkel seiner ziemlich teuren Joggingschuhe, machte im Arbeitszimmer ein paar Dehnübungen und ging dann zu seinem täglichen Acht-Kilometer-Lauf nach unten. Die Luft draußen war warm. Der Juli war nicht mehr fern, und der Sommer hatte bereits begonnen.
Als er um eine Ecke bog, hörte er eine vertraute Stimme. »He, Junge!«
Einen Becher Kaffee in der Hand, saß Harry Rex auf einer Bank, eine ungelesene Zeitung neben sich. Ray erstarrte und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Hier war jemand am falschen Ort.
Als er sich wieder bewegen konnte, ging er zu der Bank. »Was tust du denn hier?«
»Cooles Outfit«, meinte Harry Rex mit einem Blick auf die Shorts, das alte T-Shirt, die Joggerkappe und die hochmoderne Sportbrille. »Meine Frau und ich sind auf der Durchreise nach Washington. Sie hat da oben eine Schwester und will, dass ich sie endlich kennen lerne. Setz dich.«
»Warum hast du nicht angerufen?«
»Ich wollte dich nicht stören.«
»Ach komm, du hättest anrufen sollen, Harry Rex. Wir könnten essen gehen, ich könnte euch die Stadt zeigen.«
»Ist nicht diese Art von Reise. Setz dich.«
Ray roch Ärger. Er ließ sich neben Harry Rex nieder. »Ich kann’s nicht glauben.«
»Halt die Klappe und hör mir zu.«
Ray nahm die Brille ab und sah Harry Rex an. »Ist es sehr schlimm? «
»Sagen wir, es ist merkwürdig.« Harry Rex erzählte Jacob Spains Geschichte von Forrest, der sich sechs Tage vor dem Tod des Richters vor der Krebsklinik zwischen den Bäumen versteckt hatte. Während er ungläubig lauschte, rutschte Ray auf der Bank immer tiefer. Schließlich beugte er sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Kopf hängen.
»Dem ärztlichen Bericht zufolge bekam er an jenem Tag, dem 1. Mai, eine Ampulle Morphium. Aus den Aufzeichnungen geht nicht
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