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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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die kleinste Komplikation Forrest aus der Bahn werfen konnte. Am besten ließ er einen Monat oder zwei vergehen.

    Forrest würde ohnehin nicht nach Clanton zurückkehren, und in der Schattenwelt, in der er lebte, erfuhr er vielleicht nie von dem Brand. Möglicherweise war es besser, wenn Harry Rex ihm die Neuigkeit überbrachte.
    Die Empfangsdame im Alcorn Village warf ihm einen neugierigen Blick zu, als er sich anmeldete. Lange saß er in der dunklen Lounge, in der die Besucher zu warten hatten, und las Illustrierte. Als Oscar Meave mit düste-rem Gesicht erschien, wusste Ray, was geschehen war.
    »Er ist gestern Nachmittag einfach gegangen«, begann Meave, während er sich über den Sofatisch vor Ray beugte. Ich habe den ganzen Vormittag versucht, Sie zu erreichen.«
    »Ich habe mein Handy letzte Nacht verloren.« Ray konnte es nicht fassen, dass er in seiner Panik ausgerechnet sein Telefon zurückgelassen hatte.
    »Er hatte sich für die Bergwanderung eingetragen, das ist ein acht Kilometer langer Marsch durch die Natur, den er jeden Tag unternahm. Der Weg verläuft hinten auf dem Gelände, und es gibt keine Zäune, aber bei Forrest war das kein Risiko. Zumindest dachten wir das. Ich kann es nicht glauben.«
    Ray schon. Sein Bruder lief seit fast zwanzig Jahren aus Therapleein-richtungen davon.
    »Es ist auch nicht so, dass wir die Leute hier einsperren«, fuhr Meave fort. »Wenn die Patienten nicht bleiben wollen, hat es ohnehin keinen Sinn.«
    »Ich verstehe«, erklärte Ray sanft.
    »Es ging ihm so gut.« Meave war offenbar aufgewühlter als Ray. »Er war vollkommen clean und sehr stolz darauf. Er hatte zwei Teenager sozusagen adoptiert, die beide zum ersten Mal auf Entzug waren. Forrest arbeitete jeden Morgen mit ihnen. Ich verstehe das einfach nicht.«
    »Ich dachte, Sie wären früher selbst süchtig gewesen.«
    Meave schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich weiß. Ein Süchtiger kann erst aufhören, wenn er es selbst will, nicht vorher.«
    »Haben Sie noch nie jemanden getroffen, der es einfach nicht lassen kann?«
    »Wenn ja, dann dürfte ich das nicht zugeben.«
    »Verständlich. Aber unter uns gesagt, wir wissen doch beide, dass es Süchtige gibt, die sich nie ändern werden.«
    Meave zuckte widerstrebend die Achseln.
    »Forrest gehört dazu, Oscar. Ich erlebe das jetzt schon seit zwanzig Jahren.«
    »Ich empfinde es als persönliches Versagen.«

    »Das sollten Sie aber nicht.«
    Sie gingen nach draußen und unterhielten sich noch einen Augenblick auf der Veranda. Meave entschuldigte sich ununterbrochen, aber für Ray kam diese Entwicklung keineswegs unerwartet.
    Auf der kurvigen Straße zum Highway zurück fragte er sich, wie sein Bruder einfach so aus einer Einrichtung verschwinden konnte, die zwölf Kilometer vom nächsten Ort entfernt war. Andererseits war ihm schon aus wesentlich abgeschiedeneren Anlagen die Flucht gelungen.
    Er würde nach Memphis zurückkehren, in sein Zimmer in Ellies Keller, auf die Straßen, wo die Drogenhändler auf ihn warteten. Vielleicht würde sein nächster Anruf der letzte sein, aber mit dieser Möglichkeit lebte Ray schon seit Jahren. So krank er auch war, Forrest hatte sich als erstaunlich überlebensfähig erwiesen.
    Ray erreichte Tennessee. Der nächste Staat war Virginia. Noch sieben Stunden. Angesichts des klaren Himmels und des windstillen Tages dachte er daran, wie schön es wäre, jetzt in tausendfünfhundert Meter Höhe mit seiner geliebten Cessna herumzuflitzen.

37
    Beide Türen waren neu, umlackiert und viel schwerer als die alten. Im Stillen dankte Ray seinem Vermieter für die Extraausgabe, obwohl er wusste, dass es keine Einbrüche mehr geben würde. Die Verfolgungs-jagd war zu Ende. Schluss mit den gehetzten Blicken über die Schulter, den heimlichen Besuchen bei Chaney’s, dem Versteckspiel. Keine ge-flüsterten Gespräche mehr mit Corey Crawford. Und kein illegales Geld mehr, keine Sorgen mehr, was damit geschehen würde, aber auch keine Träume mehr. Eine Last, die er im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr mit sich herumschleppen musste. Er fühlte sich so erleichtert, dass er lächelte und ein wenig schneller ausschritt.
    Das Leben würde wieder normal werden. Lange Läufe in der Hitze, ausgedehnte Alleinflüge über dem Piedmont Plateau. Er freute sich sogar auf seine vernachlässigte Recherche für die Abhandlung zum Thema Monopole, die er bis Weihnachten versprochen hatte. Aber es konnte ja auch Weihnachten des nächsten Jahres sein. Dem Thema

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