Der Richter
dass er einschlafen würde, wenn er nicht so eifrig mitschreiben würde. Bei einem langen Prozess konnte es schon einmal vorkommen, dass er zwanzig Schreibblöcke mit seinen Aufzeichnungen füllte.
Da er erst Anwalt und dann Richter gewesen war, hatte er es sich angewöhnt, alles und jedes aufzubewahren und ordentlich abzuheften. Eine Prozessakte bestand aus seinen Notizen, Kopien von Fällen, auf die sich die Anwälte beider Seiten bezogen, Kopien der entsprechenden Gesetzestexte, Richtlinien, sogar vorbereitenden Schriftsätzen, die nicht Teil der offiziellen Gerichtsakten waren. Mit den Jahren wurden die Prozessakten immer älter und nutzloser. jetzt füllten sie vierzig Kartons.
Seinen Steuererklärungen seit 1993 zufolge hatte der Richter einiges verdient, indem er als Sonderrichter Fälle angehört hatte, die sonst niemand verhandeln wollte. In ländlichen Gebieten war es nichts Ungewöhnliches, dass ein Fall mitunter zu heiß für einen gewählten Richter war. Eine der beiden Prozessparteien stellte dann einen Antrag auf Ablösung des Richters, der routinemäßig protestierte und versicherte, trotz der Fakten oder der prozessführenden Partei gerecht und unparteiisch urteilen zu können, dann aber widerstrebend zurücktrat und den Fall an einen befreundeten Kollegen aus einem anderen Teil des Staates abgab. Der Sonderrichter reiste an und konnte den Fall verhandeln, ohne die Hintergründe zu kennen und dadurch beeinflusst zu werden - und ohne sich Gedanken um seine Wiederwahl machen zu müssen.
In einigen Gerichtsbezirken wurden Sonderrichter eingesetzt, um die vollen Prozesslisten abzuarbeiten. Gelegentlich sprangen sie für einen erkrankten Kollegen ein. Fast alle diese Richter waren schon im Ruhestand. Der Staat zahlte ihnen fünfzig Dollar pro Stunde plus Spesen.
1992, in dem Jahr nach seiner Wahlniederlage, hatte Richter Atlee nichts dazuverdient. 1993 hatte man ihm fünftausendachthundert Dollar ausbezahlt. 1996, dem Jahr, in dem er am meisten gearbeitet hatte, waren es 16.3oo Dollar gewesen. Im letzten Jahr, 1999, hatte er 8.760 Dollar verdient, war aber auch die meiste Zeit über krank gewesen.
Seine Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Sonderrichter beliefen sich in einem Zeitraum von sieben Jahren auf insgesamt 56.590 Dollar. Alle Einkünfte waren in seinen Steuererklärungen angegeben.
Ray wollte wissen, bei welcher Art von Fällen der Richter in den letzten Jahren den Vorsitz geführt hatte. Harry Rex hatte einen erwähnt - den Aufsehen erregenden Scheidungsprozess eines amtierenden Gouverneurs. Die dazugehörige Prozessakte war sieben Zentimeter dicker als die übrigen und enthielt auch Artikel aus einer Zeitung aus Jackson mit Fotos des Gouverneurs und seiner Gattin, die bald seine Exfrau sein würde, und einer zweiten Frau, die man für seine aktuelle Geliebte hielt. Die Verhandlung hatte -
Wochen gedauert, und seinen Notizen nach zu urteilen hatte sich Richter Atlee dabei prächtig amüsiert.
In der Nähe von Hattiesburg hatte der Richter zwei Wochen lang einen Annexionsfall verhandelt, der alle Beteiligten verärgert hatte. Die Stadt breitete sich immer mehr in westlicher Richtung aus und hatte ein Auge auf einige gewerblich genutzte Grundstücke in erstklassiger Lage geworfen.
Mehrere Klagen waren eingereicht worden, und zwei Jahre später rief Richter Atlee die Parteien im Gerichtssaal zusammen. Auch in dieser Akte fand Ray einige Zeitungsartikel, aber nachdem er sich eine Stunde lang durch die komplizierte Thematik gearbeitet hatte, langweilte ihn der Fall. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals den Vorsitz bei einer solchen Angelegenheit zu führen.
Aber wenigstens war es dabei um Geld gegangen.
1995 hatte Richter Atlee in der kleinen, zwei Stunden Fahrzeit entfernt liegenden Stadt Kosciusko acht Tage lang einen Fall verhandelt, aber nichts in der Akte deutete darauf hin, dass es dabei um etwas von Bedeutung gegangen war.
In Tishomingo County hatte es 1994 einen grauenhaften Verkehrsunfall gegeben, an dem ein Lastwagen beteiligt gewesen war. Fünf in ihrem Wagen eingeklemmte Teenager verbrannten. Da sie minderjährig gewesen waren, fiel die Schadenersatzklage der Angehörigen in den Zuständigkeitsbereich des Chancery Court. Ein amtierender Chancellor war mit einem der Opfer verwandt. Der andere hatte einen Gehirntumor und würde bald sterben. Richter Atlee sprang ein und führte den Vorsitz bei dem Prozess, der nach zwei Tagen mit einem Vergleich in Höhe von
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