Der Ring des Todes - ein Wagner Krimi
auf seine ureigene Weise. Richard Wagner wollte im Grunde jedem Menschen eben diese Freiheit lassen…. Niemals hätte er wohl vermutet, dass einer seiner Bewunderer diese Besonderheit derart missbrauchen könnte. Sie konnten seine Symbole gar nicht deuten, auch wenn das Ihrem fanatischen Mörder wahrscheinlich gar nicht bewusst ist. Er empfindet sein Interesse für Richard Wagner als selbstverständlich und setzt es vielleicht für den Rest der Menschheit schlichtweg voraus. Erst als er merkt, dass die Polizei nicht in der Lage ist, seine Symbole zu deuten, wird er plakativ. Denken Sie an die Postkarte.“ Wagner stellte das Weinglas auf den Tisch. „Das würde voraussetzen, dass er im Grunde gefasst werden will. Oder er ist sich seiner Fähigkeiten und Überlegenheit so sicher, dass er ein Spielchen mit uns wagt.“ Elle sah ihm besorgt in die Augen. „Ich tippe auf Letzteres.“ Hauptkommissar Wagner fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Diese Geste war Ausdruck seiner hochgradigen Anspannung. Einerseits hatte er das Gefühl, dem Mörder endlich ein Stück näher gekommen zu sein, andererseits plagte ihn die Gewissheit, dass er seinem Ziel noch nicht nah genug war und bisher noch keinen einzigen reellen Hinweis auf den Täter hatte. Unvermittelt sah er Elle an: „Wer ist der Nächste? Was denken Sie?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Sie meinen auf fiktiver Ebene? Schwer zu sagen. Es gibt viele miese Charaktere im Ring des Nibelungen, und genügend Menschen, die einer kranken Person Anlass zum Morden bieten. Geplante Ziele im Kopf unseres Mörders werden sicherlich noch Ebenbilder von Alberich und Wotan sein, obgleich über deren genaues Schicksal im Ring spekuliert werden darf. Aber das sollte unseren Mörder und seine Phantasie nicht stören. Die Machtbesessenheit dieser beiden komplexen Charaktere schreit förmlich nach Assoziationen zu lebendigen Personen. Vorausgesetzt, wir liegen mit unserer Theorie überhaupt richtig!“ Elle lächelte unsicher, doch für Theobald Wagner gab es diesbezüglich keine Zweifel mehr. Oder war er bereits einfach zu verzweifelt, und dieser Strohalm, diese Theorie, bewahrte Wagner vor dem Untergang?
Es war egal, aus welchem Grund er daran festhielt, es fühlte sich richtig an!
„Wotan ist der Herrscher der Götter. Und Alberich herrscht über das Volk der Nibelungen, richtig?“ Wagners Worte durchschnitten das Schweigen. Elle nickte. „Welcher der beiden Gestalten ist der Mächtigere?“ „Schwierige Frage. Das kommt auf den Blickwinkel an. Fifty-fifty würde ich sagen.“ Diese Ausdrucksweise passte gar nicht in Elles Wortschatz, allerdings war es nicht das erste Mal, dass sie ihn verblüffte.
„Sie sprachen vorhin davon, dass Sie irgendwelche Hausaufgaben gemacht haben. Wären Sie bereit, noch eine Hausaufgabe zu übernehmen? Ich bin wie Sie der Meinung, dass unser Freund ein spezieller Wagnerfreak ist. Es wäre hilfreich, wenn Sie mir alle Wagner-Fans dieser Stadt auflisten könnten, die Ihnen einfallen.“ Elle lächelte und reichte ihm den Stapel Papier, auf dem sie während des ganzen Gesprächs immer wieder mit den Fingern herumgetrommelt hatte. „Die erste Liste führt alle Theaterabonnenten der letzten zehn Jahre auf. Das war nicht ganz einfach, aber wozu hat man Freunde. Keine Sorge, niemand weiß, wofür ich sie wirklich benötige. Die zweite Liste beinhaltet alle Angehörigen des Wagnerverbandes dieser Stadt. Das war leicht. Ich habe den Vorsitz seit acht Jahren. Nun sind wir quitt. Sie haben gegen Ihre Vorschriften verstoßen und ich habe es gleich mit dem Datenschutz aufgenommen.“ Elle lachte nervös, und leerte ihr Weinglas.
„Seien Sie unbesorgt. Sie sind in guten Händen. Wir sind doch ein Team, oder?“ In stiller Übereinkunft leerten sie schweigend die Karaffe und lauschten der Musik.
Theobald Wagner fühlte sich von den schweren, melancholischen Melodien hinabgetragen zu den tiefsten Abgründen seiner Seele. In Begleitung dieser Töne fühlte es sich gut an, dort zu sein. Als sie sich einige Zeit später mit einer herzlichen Umarmung voneinander verabschiedeten, fiel Wagner noch etwas ein: „Eine Frage hätte ich noch, Elle. Wenn unser Täter sich selbst als einen Teil des Rings empfinden würde, anstatt die Geschehnisse lediglich von außen zu beeinflussen, welche Gestalt würde er wohl annehmen?“ Elle sah ihn aufmerksam an. „Das ist eine wirklich gute Frage, die ich mir selbst noch gar nicht gestellt habe. Bisher habe ich den
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