Der Ring von Ikribu
wegzuschaffen, bekam sie etwas Warmes, Weiches und Nasses zu fassen.
»Mitra!« Hastig ließ sie es los. Es war Sopis’ blutige Hand, an deren Mittelfinger der Ring Ikribus schwach glühte.
»Sopis, könnt Ihr …?«
»Sie – sie sind hier!« keuchte er schmerzhaft.
Obwohl der Staub sich inzwischen gesetzt und sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte sie kaum etwas sehen. Aber sie hörte die schwachen Geräusche hinter dem Schutthaufen.
»Sopis.«
»Sie sind hier!«
Murmelnde, wispernde, geifernde Laute vernahm sie, als versuchten Wesen ohne Münder zu sprechen. Und Geräusche von Bewegungen hörte sie: ein Platschen, als klatschten dicke nasse Seile auf Stein; etwas kroch, sich windend, näher.
Sonja hörte, aber sehen konnte sie kaum etwas, mit Mühe die Umrisse von Sopis’ blutiger Hand, die aus dem Trümmerhaufen ragte. Hustend und keuchend wischte Sonja sich die Tränen aus den Augen, als neu aufwirbelnder Staub ihr in Augen, Nase und Mund drang. Sopis schrie nun immer gellender:
»Sie sind hier…! Aya nagal ka nokomis kulum …! «
Sonjas Haut kribbelte. Der Stygier versuchte einen letzten Schutzzauber in der Sprache des schrecklichen Acheron. Der Ring schützte ihn nicht. Sonja hörte Sopis mit den Füßen gegen Stein hämmern. Das grauenvolle geifernde Platschen kam näher und übertönte schon fast des Stygiers Stimme.
»Ny harayat milak, aya nagal – iüühhhh!«
Verzweifelt versuchte Sonja, weitere Trümmer wegzuräumen. Weshalb wollte sie Sopis’ Leben retten, obgleich er sie doch hatte töten wollen? Weil er ein Mensch war – im Gegensatz zu diesen anderen, was immer sie auch waren -Ungeheuer, die aus dem Schoß der Erde krochen!
»Hilf uns! Hilf uns, Rote Sonja …«
Sie griff nach Sopis’ Hand, zog daran, als sie sich in einem hilflosen Versuch freizukommen wand.
»Hiiil-fe!«
Sopis’ Stimme brach in einem Schluchzen. Sonja hörte, wie das geifernde Platschen auf der anderen Seite des Trümmerhaufens zu einem Malmen und Bersten wurde. Sopis’ Schrei brach plötzlich ab.
Knochen knackten – ein gieriges Schmatzen …
Ein trockener Ziegel entglitt Sonjas tauben Fingern. Schweiß rann ihr über die Stirn, brannte in den Augen. Der Ring Ikribus glühte schwach an Sopis’ Hand.
Sonja griff danach, bemühte sich, ihn von des Stygiers Mittelfinger zu ziehen. Vielleicht würde er sie besser schützen als Sopis. Doch was wirklich zählte, war, dass er möglicherweise Asroth vernichten konnte – irgendwie.
Die ganze blutige Hand kam aus dem Schutt. Abgenagte Knochen ragten weiß aus dieser abgetrennten Hand.
Sonja riss den Ring vom Finger, ließ ihn in ihren Gürtelbeutel fallen, packte ihr Schwert und hastete durch den Korridor. Eine ganze Weile noch hörte sie das Schmatzen und Kauen hinter der Trümmerwand.
Die Rote Sonja keuchte, als sie aus dem wirbelnden Staub und der Dunkelheit des Ganges in den zumindest schwach beleuchteten Korridor kam, der zur Palastmitte führte. Immer noch grollte die Erde, aber weit schwächer, und sie bebte nicht mehr. Bedeutete das, dass sie sich wieder in die Tiefe zurückgezogen hatten? Nein, ganz sicher trieben sie ihr Unwesen noch auf der Oberfläche und griffen Olins Soldaten und Söldner überall in der Stadt an.
Sie erreichte den Hauptkorridor. Durch die offene Flügeltür an seinem Ende sah sie haufenweise Soldaten auf dem Platz vor dem Palast. Beim Weiterlaufen warf sie einen Blick in den Thronsaal. Nur Tias war dort, sie kauerte unter einem Tisch, und eine frische Leiche.
Sonja rannte zu dem Mädchen. »Was ist passiert?«
»Sie – sie kamen – und – und …« Tias stierte unter dem Tisch geradeaus und steckte ihre Finger in den Mund.
»Tias!«
Das Mädchen blickte hoch. Grauen sprach aus ihren Augen. »Was sind sie?« schrillte sie. »Diese – diese grässlichen - Dinger!«
Sonja fasste sie am Arm und zog sie unter dem Tisch hervor. »In Tarims Namen, Mädchen! Komm zu dir!« Sie schlug Tias ins Gesicht. Das Mädchen wimmerte, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Boden. Sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte.
»Was sind sie?«
Sonja drehte sich um und verließ sie. Der Wahnsinn war aus Tias’ Augen gewichen, nur die Furcht blieb. Sie würde sich heiser weinen, nicht aber den Verstand verlieren.
Die frische Leiche eines von Olins Männern lag vor einem Fenster. Das Gesicht des Soldaten war auf unmögliche Weise verrenkt, sein Mund war aufgerissen und das Blut aus den Augen auf den Wangen verkrustet.
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