Der Ripper - Roman
bei der ersten Gelegenheit sofort umzudrehen und in die Heimat zurückzukehren. Ich schmiedete den
Plan, Mutter eine Nachricht zukommen und sie wissen zu lassen, dass ich am Leben war, um mich dann eine Zeit lang dort umzusehen.
Doch ich hatte diesen aufregenden Gedanken noch nicht richtig zu Ende geführt, da senkte sich auch schon tiefe Verzweiflung auf mich herab. Ich würde Amerika nie erreichen. Wenn uns der Ozean nicht vorher verschlang, würde Whittle uns in Stücke schneiden, sobald er die Dienste seiner Mannschaft nicht mehr benötigte.
Ich hätte allerdings eher auf den Ozean gesetzt.
Er gönnte uns keine Ruhepause. War er milde gestimmt, erklommen wir die hohen Wellentäler und stürzten wieder in die Tiefe, während wir herumgestoßen wurden. Ließ er seiner Macht freien Lauf, hörte er auf, mit uns herumzuspielen und tat sein Bestes, uns zu demoralisieren.
Es gab Momente, in denen mir das Herz beinahe vor Furcht stehenblieb, wenn wir mit diesem winzigen Schiff den tiefsten Punkt eines Wellentals befuhren und die Wogen wie steile Klippen über uns drohten, bis eine dann lawinengleich auf uns herabstürzte. Noch häufiger erklommen wir die wässrige Höhe, ritten den Wellenkamm entlang und stürzten direkt in den nächsten Abgrund, jagten so steil herab, dass es schien, wir würden uns jeden Augenblick überschlagen oder zumindest mit einer solchen Wucht unten aufprallen, dass es das Schiff zerschmettern würde.
Der Sturmwind pfiff schrill durch die Takelage. Wasserfluten schlugen über uns zusammen und drohten, uns von den Füßen zu holen und über Bord zu spülen. Bekamen wir dann endlich eine Atempause, waren wir halbtot und hatten Eiszapfen an Nasen und Haaren.
Wir erlebten einen oder zwei Tage die übliche raue See, dann gerieten wir erneut in eine ernsthaft bedrohliche Klemme, und es war ein wahres Wunder, dass die True D. Light nicht den Geist aufgab und sich unter unseren Füßen in ihre Einzelteile auflöste. Aber sie überstand es, wie auch wir es irgendwie überstanden.
Eines steht jedenfalls fest: Es war ein Wunder, dass wir am sechsunddreißigsten Tag unserer Reise noch alle am Leben waren und das sich am Horizont abzeichnende Land erspähen konnten.
14
Unsere letzte Nacht auf der True D. Light
Da Whittle jeglichen Schwierigkeiten mit den Zollbehörden und auch allen anderen Beamten aus dem Weg gehen wollte, entschied er, den Hafen von New York zu meiden und an einem unbewohnten Stück Küste an Land zu gehen, wo man uns nicht bemerken würde.
Also segelten wir bis nach Sonnenuntergang die Küste entlang. Dann steuerte uns Michael an einen Ort, den man ihm zufolge Gravesend Bay nannte. Hinter einer Landzunge suchten wir Schutz vor dem Wind und dem Wellengang. Dort, nur ein paar hundert Yards von der Mündung des Coney Island Creeks entfernt, ließ uns Whittle die Segel reffen und den Anker werfen.
Sicher vertäut im ruhigen Wasser begaben wir uns unter Deck und aßen unsere letzte Mahlzeit auf der True D. Light. Ich bekam kaum einen Bissen herunter. Einerseits war ich mächtig froh, dass der Ozean endlich hinter uns lag. Er hatte sich alle Mühe gegeben, uns umzubringen, aber wir hatten die Überfahrt lebend überstanden. Andererseits waren wir auf See für Whittle von Nutzen gewesen. Nun brauchte er weder Mannschaft noch Köchin noch Geiseln. Wir waren entbehrlich geworden. Das versetzte meinem Appetit einen ordentlichen Dämpfer.
Mir entging nicht, dass sich Trudy und Michael ebenfalls Sorgen machten. Sie stocherten in ihrem Essen herum und sprachen kaum. Keiner fragte Whittle nach
seinen Plänen. Ich vermute, dazu hatte keiner von uns den nötigen Mut. Vielleicht dachten die anderen ebenso wie ich, dass ihn solcherlei Fragen nur auf üble Ideen bringen würden. Vielleicht würde er vergessen, dass es langsam Zeit wurde, uns alle umzubringen, wenn wir den Mund hielten.
Als Whittle den letzten Bissen gegessen hatte, tupfte er sich die Lippen mit der Serviette ab und seufzte. Er trug eine dünne Nasenklappe aus Seide, für die er vermutlich eines von Trudys guten Höschen mit einem Loch versehen hatte. Irgendwie hatte sich in ihrer Mitte eine tiefe Falte gebildet, während der Stoff an beiden Seiten seiner winzigen Nasenlöcher festklebte. Als er seufzte, wölbte sich der Stoff wie zwei Segel vor.
»Alles in allem, meine Lieben«, sagte er, »war es eine wunderbare Reise. Ihr wart prächtige Schiffskameraden und Gefährten. Ich wage zu behaupten, dass ich euch noch sehr
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