Der Ripper - Roman
endlich aufhören zu weinen.
»Ich glaube nicht, dass ich je mit einem eigenen Kind gesegnet sein werde«, fuhr Sarah fort.
»Oh, mit Sicherheit wirst du …«
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen. »Wenn ich einen Sohn hätte , würde ich mir wünschen, er wäre so ein prächtiger junger Mann wie du.«
Dann fing sie an zu weinen.
Sie ließ sich auf die Fersen sinken, kreuzte die Arme auf meinem Schoß, vergrub ihr Gesicht darin und schluchzte. Ich legte meine neue Uhr auf den Tisch.
»Weine doch nicht«, sagte ich. »Es wird alles gut.«
Sie schluchzte weiter. Ich tätschelte ihr den Rücken und strich ihr übers Haar. Schließlich stand sie auf. Sie zupfte ihr Kleid zurecht und schniefte ein paarmal. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Ich weiß gar nicht …« Und plötzlich heulte sie wieder los, nur noch heftiger als zuvor.
Ich erhob mich und nahm sie in den Arm.
Und so standen wir da, hielten einander fest und schluchzten, was das Zeug hielt.
Es dauerte eine Weile, aber schließlich versiegten unsere Tränen. Doch wir ließen einander nicht los. Sie zu umarmen fühlte sich mächtig gut an, obwohl mir bewusst
war, dass ich nicht meine Mutter im Arm hielt, und sie genau wusste, dass ich nicht ihr Sohn war.
Als wir voneinander abrückten, versuchte sie zu lächeln. Ihr Gesicht war gerötet und tränennass, ihre Augen leuchteten. Sie sah einfach wunderschön aus. »Sind wir nicht albern?«, meinte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Sarah wischte mir mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen. Dann küsste sie mich auf den Mund, ganz sanft und zärtlich.
Kurz darauf ging ich in mein Zimmer und legte mich schlafen. Alles in allem war es ein seltsames Weihnachten gewesen. Ich grübelte eine Zeit lang über alles nach, aber mein Kopf war ganz nebelig vom Wein, und bevor ich mich versah, war ich eingeschlafen.
Sarah weckte mich am nächsten Morgen mit einem Kuss, wie von nun an jeden Morgen. Abends kam sie zur Schlafenszeit in mein Zimmer. Wir unterhielten uns eine Weile, dann gab sie mir einen Gutenachtkuss und ging ihrerseits zu Bett.
Den Tag über kümmerten wir uns um den General und Mable. Ich half beim Kochen, hielt das Haus sauber und sah nach den Pferden.
So wie meine Ersparnisse wuchsen, einen Dollar die Woche, konnte ich absehen, dass ich bestimmt den ganzen Sommer hier verbringen musste, und vermutlich noch einige Sommer mehr. Ich wusste nicht, was eine Schiffspassage nach England kostete, aber sie war bestimmt sehr teuer.
Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, sank meine Stimmung. Aber im Großen und Ganzen war ich bei den Forrests recht glücklich. Sarah behandelte mich wirklich
gut. Der General war offenbar gern in meiner Gesellschaft. Sogar Mable schien sich für mich zu erwärmen. Sie kommandierte mich zwar fürchterlich herum, schnauzte mich aber nur selten an.
Es gab Tage, an denen ich kein einziges Mal an Whittle dachte. Ich war sicher, er weit weg. Womöglich hatte ihn bereits jemand getötet. Das hoffte ich jedenfalls sehr.
Ich durchforstete jede Ausgabe der World , die wir in der Stadt kauften, nach möglichen Aktivitäten Whittles. Ich nahm mir jeden Artikel vor, darauf gefasst, etwas über einen grausamen Mord zu lesen und feststellen zu müssen, dass Whittle wieder seinem Handwerk frönte.
Mitte Januar stieß ich auf den Bericht über eine Frau »zweifelhaften Lebenswandels« namens Bess, die auf »unaussprechliche Weise verstümmelt« an einem Ort namens Hell’s Kitchen aufgefunden worden war. Sofort fing mein Herz an zu pochen. Ich las weiter, und die Zeitung schrieb, dass man einen Burschen namens Argus Tate dafür festgenommen hatte.
In den folgenden Wochen erschien ein halbes Dutzend weiterer Berichte über aufgeschlitzte Frauen. Meistens geschah es in Hell’s Kitchen oder Chelsea. Sarah erklärte mir, das seien Stadtviertel von Manhattan, jenseits des East River, nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Meilen von uns. Mir wurde ein wenig übel.
Eine Tagesreise von hier nach da. Eine Tagesreise für Whittle von da nach hier .
Ich las weiterhin aufmerksam die Zeitung und hoffte, nichts lesen zu müssen, was Whittles Täterschaft bewies.
Mein Studium der World nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Zwischen meinen Pflichten, den Ausflügen in die Stadt und dergleichen führte ich mir eine Menge Bücher
zu Gemüte. Ich las viel Shakespeare, Charles Dickens, Stevenson und Scott. Ich nahm auch ein paar Geschichten von Edgar Allan Poe in
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