Der Ripper - Roman
beträchtliche Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie gestorben war. Von den Indianern zu Tode gefoltert zu werden war nicht viel schlimmer als die Weise, auf die Whittle sie getötet hatte. Ich bekam Schuldgefühle, dass ich ihr das Leben gerettet hatte. Hätte ich zugelassen,
dass sie sich erhängte oder ertrank, wäre ihr sein Messer erspart geblieben. Das Problem war, ich hatte es die ganze Zeit gewusst. Selbst während meiner Rettungsaktion war mir klar gewesen, dass der Tod für sie das gnädigere Schicksal sein würde. Aber ich hatte sie trotzdem gerettet.
Vielleicht war ich nicht dazu fähig, mich anders zu verhalten. Aber nachdem der General mir erzählt hatte, dass man die letzte Kugel für die Frau aufsparte, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
21
Verluste
An einem regnerischen Dienstagnachmittag Anfang April war Mable verschwunden. Sie hatte so etwas bereits schon fünf- oder sechsmal gemacht und sich trotz ihres schlimmen Beins aus dem Haus geschlichen, wenn der Rest von uns beschäftigt war. An diesem bestimmten Tag schlief der General vor dem Kaminfeuer, während ich in der Küche Sarah beim Keksebacken Gesellschaft leistete. Erst als die Kekse fertig waren und wir dem General und Mable einen Teller davon bringen wollten, bemerkten wir Mables Verschwinden.
Es war stets Sarah und mir zugefallen, Mable zurückzuholen, da Sarah nicht wollte, dass der General bei einem solchen Wetter nach draußen ging; sie hatte Angst, er könnte sich eine Lungenentzündung holen. Außerdem hatte er sich nie über die Ausflüge seiner Frau Sorgen gemacht.
Nach einer schnellen Durchsuchung des Hauses musste ich Sarah wieder einmal mitteilen: »Anscheinend ist sie weg.«
Sarah stöhnte.
Der General schluckte einen Mundvoll Gebäck hinunter.
»Ja. In der letzten Stunde herrschte hier eine deutlich wahrnehmbare, erfrischende Stille. Meine Ohren haben diese Pause dankbar zur Kenntnis genommen.«
»Grandpa!«
»Ach was, nun mach dir mal wegen Mable keine Sorgen. Ich glaube, sie unternimmt ihre kleinen Ausflüge nur deshalb, weil es ihr Spaß macht, gefunden zu werden.«
»Draußen gießt es wie aus Eimern!«
»Der Regen wird ihr guttun. Sie hat seit Wochen nicht mehr gebadet.«
Ich zog meinen Regenmantel über und eilte mit Sarah in den Stall. Wir schirrten Howitzer an und fuhren in Richtung Stadt. Für gewöhnlich nahm Mable diese Strecke. Bei den anderen Malen hatte Schnee gelegen, so dass wir immer Angst hatten, sie könnte erfrieren. Doch wir hatten sie jedes Mal rechtzeitig gefunden, und es hatte ihr offenbar nie etwas ausgemacht. Ich schätzte, sie würde auch etwas Regen überstehen, also machte ich mir keine großen Sorgen.
Bis ich sie sah.
Mable lag mit dem Gesicht nach unten am Straßenrand, auf der Mitte des Weges zwischen dem Haus des Generals und dem nächsten Nachbarn. Selbst aus einiger Entfernung war deutlich erkennbar, dass sie sich nicht bewegte. Die Pfütze konnte ich jedoch erst sehen, als wir Howitzer zügelten, vom Kutschbock sprangen und zu ihr liefen.
Es war nur eine kleine Pfütze.
Kaum größer als ein Meter, und höchstens ein paar Zentimeter tief.
Aber Mable war darin ertrunken.
Vielleicht war sie auch gar nicht ertrunken, sondern tot zusammengebrochen und zufällig mit dem Gesicht im Wasser gelandet.
Wie dem auch sei, Mable war tot.
Ich ging in die Hocke und drehte sie auf den Rücken. Es war, als hätte sie keinen einzigen Knochen im Körper. Ihr Gesicht war von dem lehmigen Wasser ganz grau. Der Regen wusch es sauber und fiel in ihren offenen Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Die Regentropfen prasselten auf ihre Augäpfel, aber sie blinzelte nicht.
»O mein Gott«, murmelte Sarah.
Sie schloss Mable die Augen, dann hob ich den schlaffen Leib auf. Mable war ein Stück kleiner als ich und viel dünner. Es überraschte mich, wie schwer sie trotzdem war. Irgendwie schaffte ich es jedoch, sie zur Kutsche zu bringen und auf der Rückbank abzulegen. Dann fuhren wir zurück.
Wir sagten kein Wort. Wir weinten auch nicht. In diesem Augenblick verspürte ich nicht einmal besondere Trauer. In der Hauptsache war mir schlecht, und ich fühlte mich schuldig, dass wir Mable nicht rechtzeitig gefunden hatten. Und ich fürchtete mich davor, wie der General auf die Nachricht reagieren würde.
So sehr er auch immer über seine Frau klagte, ich glaubte nicht, dass er sich über ihren Tod freuen würde.
Wir ließen die Kutsche vor der Veranda
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