Der Riss im Raum
sagte sie nachdenklich: »Erinnerst du dich eigentlich noch daran, wie unwahrscheinlich schwer du es selbst seinerzeit beim Schuleintritt hattest?«
»Jedenfalls ging es mir besser als Charles. Und ich bin nicht halb so gescheit wie er – außer vielleicht in Mathematik.«
»Schon möglich; obwohl du deine Begabung meist unterschätzt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, daß du in diesem Jahr offenbar mit der Schule Frieden geschlossen hast.«
»Herr Jenkins ist fort. Und Calvin O’Keefe ist da. Das ändert viel. Calvin ist der beste Basketballspieler, er ist Schulsprecher, er ist überhaupt alles. Jeder, den Calvin mag, steht sozusagen automatisch unter dem Schutz seiner – seiner Ausstrahlung.«
»Und woraus schließt du, daß Calvin dich mag?«
»Also, an meinem Aussehen liegt es nicht, soviel steht fest.«
»Er mag dich doch wirklich, Meg. Stimmt’s?«
»Hm, ja, ich glaub schon. Aber Calvin mag so gut wie jeden. Kein Mädchen in der Schule, das er nicht kriegen könnte.«
»Trotzdem hat er sich für dich entschieden?«
Meg spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß und hielt schützend die Hände vors Gesicht. »Nun ja, offenbar. Nur: das hat andere Gründe. Das kommt davon, daß wir gemeinsam soviel durchgemacht haben. Wir sind wie, wie Bruder und Schwester; ich meine: zwischen uns steht es nicht so wie sonst bei den meisten.«
»Schön, daß ihr euch so gut versteht. Mir gefällt diese Bohnenstange mit den Mohrrübenhaaren nämlich auch.«
Meg mußte lachen. »Und er hält wieder dich für die reinste Pallas Athene. Du bist sein uneingeschränktes Idol. Er mag offenbar unsere ganze Familie, vielleicht, weil es in seiner eigenen so ganz und gar nicht stimmt. Manchmal glaube ich, er mag mich nur, weil ich eine Murry bin.«
Megs Mutter seufzte. »Hör auf, dich selbst schlechtzumachen.«
»Nun, zumindest als Köchin bin ich dir bald ebenbürtig. Weißt du übrigens, wer Charles Wallace heute verdroschen hat? Whippy, einer von Calvins Brüdern. Wahrscheinlich schäumt er jetzt vor Wut; Calvin natürlich, nicht Whippy; der hat sich bestimmt nichts dabei gedacht. Irgend jemand wird es Calvin schon gesteckt haben.«
»Möchtest du ihn anrufen?«
»Calvin? Ich doch nicht! Nein, ich muß abwarten, was er unternimmt. Vielleicht schaut Cal heute abend noch vorbei.« Sie seufzte. »Ach, wenn das Leben bloß nicht so kompliziert wäre! Glaubst du, daß aus mir jemals ein zweifacher Doktor wird wie aus dir?«
Frau Murry blickte von den Pfefferschoten auf und lachte. »Als ob damit alle Probleme gelöst wären! Nein, da gibt es auch noch andere Möglichkeiten. So, und jetzt habe ich tatsächlich nicht aufgepaßt und wahrscheinlich zu viel Pfeffer in die Soße getan.«
Kaum hatten sie sich zu Tisch gesetzt, rief Herr Murry an und teilte ihnen mit, daß er von Washington direkt nach Brookhaven weiterfahren müsse und dort eine Woche bleiben würde. Das war weder für ihn noch für Mutter außergewöhnlich, aber gerade jetzt empfand Meg seine Abwesenheit als äußerst beunruhigend.
»Hoffentlich gefällt es ihm in Brookhaven«, sagte sie, keineswegs überzeugt. »Er hält viel von den Leuten, die dort arbeiten.«
In Wirklichkeit hatte sie panische Angst davor, heute nacht nicht beide Eltern im Haus zu wissen, und keineswegs nur, weil sie sich um Charles Wallace Sorgen machte. Die ganze Welt schien ihr auf einmal unsicher und gefährlich. In diesem Herbst war in einigen Nachbarhäusern eingebrochen worden; die Täter hatten zwar keine Wertgegenstände mitgenommen, aber aus reiner Lust am Zerstören Schubladen ausgeräumt, Essen auf den Teppich geschüttet oder die Möbel aufgeschlitzt. Selbst das kleine, verschlafene Dorf, in dem sie wohnten, blieb nicht von Unvorhersehbarem, von Gefahr und sinnloser Bedrohung verschont. Das hatte Meg zwar längst begriffen, aber erst in letzter Zeit bewußt zur Kenntnis genommen. Allmählich begann sie zu ahnen, daß das Leben an sich unsicher war und selbst die schönsten Pläne vereiteln konnte. Das gab ihr ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Sie mußte schlucken.
Charles Wallace musterte sie ohne Mitleid und sagte: »Und scheint die Sonne noch so schön … «
»… einmal muß sie untergehn«, ergänzte Sandy.
»Der Mensch denkt, Gott lenkt«, versuchte Dennys mitzuhalten.
Die Zwillinge reichten ihre Teller weiter und forderten Nachschub an Spaghetti. Sie hatten, wie immer, einen gesegneten Appetit.
»Warum muß Vater eine ganze Woche wegbleiben?«
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