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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Greuel.«
    Meg seufzte, resigniert, ein wenig verängstigt, aber auch – zu ihrer eigenen Überraschung – erleichtert. »Also gut, Progo, ich nehme zur Kenntnis, daß du kein Phantasieprodukt bist. Und was jetzt? In einer Stunde gibt es Frühstück.«
    »Hast du Hunger?«
    »Nein, ich bin so aufgeregt, daß ich kaum etwas essen könnte. Trotzdem darf ich mich nicht verspäten. Oder sollte ich etwa sagen: »Tut mir leid, aber ich habe mich mit einem Cherubim verplaudert?« Auch meine Mutter kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen.«
    »In einer Stunde läßt sich viel erreichen«, sagte Proginoskes. »Zum Beispiel: herausfinden, worin unsere erste Prüfung besteht.«
    »Weißt du das denn nicht?«
    »Wie sollte ich es wissen?«
    »Du bist ein Cherubim.«
    »Auch ein Cherubim hat seine Grenzen. Niemand, vielleicht nicht einmal der Lehrmeister, weiß vor der Zeit, welche drei Prüfungen uns bevorstehen.«
    »Also, was tun wir da? Wie kommen wir auf die richtige Spur?«
    Proginoskes fächelte langsam und nachdenklich mit mehreren Flügeln; an einem heißen Tag hätte das wahrscheinlich Kühlung gebracht, an diesem kalten Morgen veranlaßte es Meg bloß, sich die Jacke enger um die Schultern zu ziehen.
    Der Cherubim bemerkte das nicht; er fächelte und grübelte unbeeindruckt weiter. Dann spürte Meg seine vorsichtig abwägenden Worte in ihren Gedanken: »Da du mir schon einmal zugeteilt wurdest, könntest du ein – wenn auch primitiver – Namengeber sein.«
    »Ein was?«
    »Ein Namengeber. Ich will dir ein Beispiel nennen. Als ich zuletzt bei einem Lehrmeister war – oder in der Schule, wie ihr zu sagen pflegt —, trug er mir auf, die Namen der Sterne auswendig zu lernen.«
    »Welcher Sterne?«
    »Aller.«
    »Wie? Sämtliche Sterne in sämtlichen Galaxien?«
    »Ja. Man muß ja wissen, welcher Stern gemeint ist, wenn ein bestimmter aufgerufen wird. Und den Sternen gefällt das. Nur wenige von uns kennen sie alle beim Namen – und wenn man namenlos ist, fühlt man sich schrecklich einsam.«
    »Was, muß denn auch ich die Namen sämtlicher Sterne auswendig lernen?« Die Vorstellung jagte ihr Schrecken ein.
    »Gütige Milchstraße, nein!«
    »Was sonst erwartet man also von mir?«
    Wieder entfaltete und schloß Proginoskes mehrere Flügel; mittlerweile wußte Meg, was das bedeutete: Er hatte keine Ahnung.
    »Angenommen, ich bin tatsächlich ein – ein Namengeber. Was bedeutet das? Was hat ein Namengeber zu tun?«
    Die Flügel schlossen sich, einer nach dem anderen, die Augen ebenfalls, einzeln und in Gruppen, bis keines mehr offen stand. Kleine, nebelweiße Rauchwölkchen kringelten auf. »Als ich die Namen der Sterne lernte, geschah das unter anderem, damit sie mit meiner Hilfe werden konnten, was sie eigentlich sein sollten. Darin besteht im Grunde die Aufgabe eines Namengebers. Vielleicht lautet dein Auftrag, die Menschen menschlicher zu machen.«
    »Wie soll ich das verstehen?« Sie setzte sich neben ihn auf die Steinplatte; mittlerweile hatte sie keine Angst mehr vor seinem Aussehen, seiner Größe und seinen Feuerzungen.
    Er fragte: »Welche Gefühle rufe ich in dir hervor?«
    Meg zögerte. Sie wollte ihn nicht kränken und vergaß ganz, daß der Cherubim noch weniger als Charles Wallace auf ihre Worte angewiesen war, weil er ohnedies in ihren Gedanken lesen konnte. Zuletzt gestand sie offen: »Du verwirrst mich.«
    Er blies einige Rauchwölkchen vor sich hin. »Nun, das kommt davon, daß wir einander zu wenig kennen. Und wer verwirrt dich am wenigsten?«
    »Calvin.« Das sagte sie, ohne zu zögern. »In seiner Gegenwart kann ich mich geben, wie ich bin.«
    »Heißt das, er läßt dich mehr als andere du selbst sein?«
    »Ja, so könnte man auch sagen.«
    »Und bei wem bist du am wenigsten du selbst?«
    »Bei Herrn Jenkins.«
    »Warum bist du auf einmal so aufgeregt und fürchtest dich?« drang Proginoskes plötzlich in ihre Gedanken.
    »Er ist jetzt Leiter der Dorfschule. Aber vorher war er Rektor in meiner Schule und ließ mich oft in sein Büro rufen. Ihm fehlt jedes Verständnis, und was immer ich tat, war in seinen Augen automatisch falsch. Charles Wallace käme wahrscheinlich viel besser weg, wenn er nicht mein Bruder wäre. Allein deshalb findet ihn Herr Jenkins unmöglich.«
    »Das ist alles?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn du »Herr Jenkins« sagst, weht mich ein so kalter Angsthauch an, daß mich selbst schaudert.«
    »Progo, gestern abend ist etwas vorgefallen, ehe wir dir und Blajeny begegneten –

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