Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
Vom Netzwerk:
Vaters Stimme, hörte, wie er ruhig, fast emotionslos argumentierte:
    »Vom anscheinend Widersinnigen sind allerdings nicht nur fremde Sonnensysteme betroffen. Beinahe unbemerkt, aber um so hartnäckiger, nistet sich der Widersinn auch bei uns ein. Bedenke nur, was allein in unserem Land geschieht! Daß die Lage sich so entwickeln würde, hätten wir noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten.«
    Frau Murry ließ den Kaffeerest in der Tasse kreisen. »An vieles will ich nicht glauben, ohne es leugnen zu können.« Sie blickte auf; die Zwillinge und Charles Wallace waren bereits ins Bett gegangen; Meg ließ Wasser in den Spülstein rinnen und scheuerte einen Topf blank. »Vor zehn Jahren hatten wir nicht einmal ein Schloß an der Tür. Heute machen wir vor jedem kleinsten Spaziergang sogar die Läden dicht. Und in den großen Städten regiert überhaupt sinnlose Gewalt – weit stärker als bei uns.«
    Herr Murry folgte einer plötzlichen Eingebung und begann eine Gleichung auf das Tischtuch zu kritzeln. Diesmal schien seine Frau das nicht einmal zu bemerken. Er sagte: »Wer erinnert sich heute schon noch daran, daß man früher einmal Regenwasser trinken konnte, weil es so rein war, oder geschmolzenen Schnee; daß man unbedenklich in jeden Fluß oder Teich baden ging … Als ich letzthin von Washington zurückfuhr, war so dichter Verkehr, daß ich auf einem Pferd wahrscheinlich rascher vorangekommen wäre. Am Straßenrand warnten große Tafeln davor, das Tempolimit zu überschreiten, und wir krochen wie Schnecken dahin.«
    »Während die Kinder und ich das Essen warm hielten, fast drei Stunden auf dich warteten, ehe wir doch zu Tisch gingen – und so taten, als wären wir keineswegs in Sorge um dich, als könne ausgerechnet dir kein Unfall zustoßen«, ergänzte Frau Murry bitter. »Da sitzen wir, die Krone der Zivilisation, in einem prächtig regierten demokratischen Staat – und in den Schulen handeln schon die Zehnjährigen mit Rauschgift oder schlagen unserem Charles Wallace unbekümmert die Nase blutig.« Jetzt erst bemerkte sie, daß sich die Gleichung immer weiter auf dem Tischtuch ausbreitete. »Was treibst du da?«
    »Mir kam plötzlich der Gedanke, zwischen deinen Beobachtungen über die Auswirkungen der Farandolae auf die Mitochondrien und dem unerklärlichen Phänomen im Weltraum könnte eine Zusammenhang bestehen.« Er kritzelte einen Bruchstrich hin, fügte griechische Buchstaben an und quadrierte das Resultat.
    »Was ich herausfinde, ist alles andere als erfreulich«, sagte Frau Murry leise.
    »Ich weiß.«
    »Ich will Farandolae isolieren, weil diese angebliche Grippeepidemie und ihre fatalen Auswirkungen auf die Atemwege meiner Meinung nach nicht bloß auf zunehmende Luftverschmutzung zurückzuführen sind. Das Mikro-Sonaroskop gab mir den ersten Hinweis … « Sie unterbrach sich und blickte ihren Mann offen an. »Es ist doch dasselbe Klangspektrum, nicht wahr? Der seltsame ›Aufschrei‹ der befallenen Mitochondrien und der ›Urschrei‹ aus dem All, den das neue Paraboloidoskop registriert, weisen beängstigende Parallelen auf. Das beunruhigt mich nicht weniger als die Krise im eigenen Land. Zwar bemüht sich die Regierung nach Kräften, der Lage Herr zu werden – aber was richtet man heutzutage schon aus in einer Welt, die von Ehrlosigkeit und Terror so abgestumpft ist, daß die Menschen auch das Schlimmste mit einem Schulterzucken hinnehmen? Da bedarf es schon eines gewaltigen Risses im Raum, bis wir uns allmählich bedroht fühlen. Sogar ich selbst muß erst Todesängste um unser jüngstes Kind ausstehen, ehe ich mich herbeilasse, Farandolae nicht bloß mit kühlem, akademisch distanziertem Interesse zu betrachten.«
    Das klang so gequält, daß Meg, immer noch beim Spülstein, sich nach Mutter umwandte. Vater faßte sie begütigend an den Händen. »Daß ausgerechnet du so sprichst! Zugegeben, auch mein Intellekt sagt, daß die Lage besorgniserregend, ja, sogar aussichtslos ist. Trotzdem weigere ich mich, blindlings der Stimme meines Intellekts zu folgen. Wir sind noch lange nicht am Ende.«
    »Was sollte uns denn geblieben sein?« fragte Frau Murry entmutigt.
    »Die Sterne kreisen nach wie vor in ihren Bahnen; ihre ewige Ordnung ist nach wie vor unerschüttert. Nach wie vor gibt es Menschen auf der Erde, die die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Zu denen gehörst auch du – zum Beispiel, wenn du unseren Eintopf auf dem Bunsenbrenner kochst. Du bist vielleicht mitten in einem

Weitere Kostenlose Bücher