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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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»Gibt es Ihresgleichen in mehrfacher Ausfertigung?«
    »Im All wimmelt es nur so von Cherubim«, erwiderte Proginoskes fröhlich. »Aber keiner gleicht völlig dem anderen.«
    »Darum geht es«, sagte Herr Jenkins. »Präzise darum.« Geistesabwesend wischte er einige Schuppen von seiner dunklen Anzugjacke.
    Blajeny, der aufmerksam zugehört hatte, nickte ihm aufmunternd zu. »Präzise worum, Herr Jenkins?«
    »Daß niemand dem anderen völlig gleichen sollte.«
    »Geschieht das denn?«
    »Diese – diese Jenkins-Imitationen … Sich auf einmal verdoppelt und verdreifacht sehen zu müssen … Woran soll man sich denn noch halten können … ?«
    Impulsiv sprang Meg auf und setzte sich neben ihren Schulleiter. »Aber diese beiden anderen waren doch nicht mit Ihnen zu vergleichen, Herr Jenkins! Niemand ist wie Sie. Sie sind einmalig! Deshalb habe ich Sie doch benannt.«
    Verständnislos starrte er sie an. Seine Augen verschwammen hinter den dicken Brillengläsern. »Ja. Ja, deshalb hast du mich benannt. Wahrscheinlich bin ich auch nur deshalb hier – wo eigentlich? Hm, also hier.« Er wandte sich an Blajeny. »Wie nannten Sie doch gleich meine Ebenbilder? Echt – Echthroi?«
    »Ganz recht. Die Echthroi sind der verkörperte Haß. Sie wollten verhindern, daß Sie benannt werden. Sie wollten Sie sich selbst entfremden, entnennen. Es liegt im Wesen des Hasses, das Bestehende zu vernichten. Es liegt im Wesen der Liebe, Neues zu schaffen.«
    »Ich fürchte, mit meiner Liebe war es nie weit her«, sagte Herr Jenkins tonlos.
    In diesem Augenblick hatte Meg eine Eingebung. War das jene »Intuition«, von der Blajeny gesprochen hatte? Jedenfalls schoß der Gedanke in ihr so plötzlich auf wie eine Flammenzunge des Cherubim – und wie eine Flamme brannte er auch. »Herr Jenkins!« rief Meg. »Begreifen Sie denn nicht? Jedesmal, wenn ich in Ihrem Büro war, widerborstig und haßerfüllt, haßte ich in Wahrheit mich mehr als Sie! Mutter hat recht. Sie sagte einmal, daß Sie sich bloß selbst unterschätzen.«
    Als Herr Jenkins antwortete, war seine Stimme wie verwandelt. Sie hatte ihre übliche schrille Schärfe verloren. »Wir haben uns wohl beide unterschätzt, Margaret. Mir erging es ja nicht besser: Jedesmal, wenn ich meinte, von deinen Eltern mit Geringschätzung bedacht zu werden, bedachte ich in Wahrheit mich selbst mit Geringschätzung. Ich wüßte nur nicht, wie ich mich anders einstufen sollte.«
    Jetzt endlich erkannte Meg jenen Herrn Jenkins, der Calvin ein Paar Schuhe geschenkt hatte, aber nicht ohne den ungeschickten Versuch, sie alt und gebraucht erscheinen zu lassen.
    Herr Jenkins wandte sich an Blajeny. »Diese Echth…«
    »Echthroi. Einzahl: Echthros.«
    »Diese Echthroi«, sagte Herr Jenkins, »haben also mein Äußeres angenommen. Könnten sie noch mehr Schaden anrichten?«
    »Und ob.«
    »Etwa, indem sie Charles Wallace bedrohen?«
    »Sie wollen ihn exen«, stellte Proginoskes klar. »Entnennen. Auslöschen.«
    Meg wurde beinahe überwältigt von einer plötzlichen angstvollen Sehnsucht nach ihrem Bruder. »Wir hätten ihn nicht allein lassen sollen … « begann sie, verstummte aber, als sie spürte, daß sich Proginoskes sofort in sie einfühlte und sanft und hilfreich ihre Gedanken in die richtigen Bahnen lenkte – bis sie auf einmal bei Charles Wallace war, nicht wirklich, doch in der tiefsten Tiefe ihres Herzens.
    Ganz deutlich sah und hörte sie, was geschah …
    Mutter trug Charles Wallace über die Treppe. Leblos, mit baumelnden Beinen, lag er in ihrem Arm. Frau Murry brachte ihn in sein Zimmer, einen kleinen, holzgetäfelten Raum mit eigenem offenen Kamin; die Wand dahinter war tapeziert: lustige weiße Schneeflocken auf blauem Grund. Hier konnte man sich sicher und geborgen fühlen. Der Blick aus dem Fenster ging hinaus auf das Föhrenwäldchen hinter dem Haus; durch die Scheiben fiel sanftes, warmes Licht.
    Frau Murry legte Charles Wallace auf sein Bett und kleidete ihn aus. Der Kleine war so schwach, daß er ihr dabei kaum helfen konnte. Trotzdem lächelte er tapfer und flüsterte matt: »Bald geht es mir wieder gut. Meg kommt … «
    »Meg kommt in ein paar Stunden aus der Schule«, sagte Mutter. »Dann wird sie bestimmt gleich nach dir sehen. Und Dr. Louise ist bereits auf dem Weg.«
    »Meg ist nicht – in der Schule.« Das Sprechen fiel ihm äußerst schwer.
    Statt ihm zu widersprechen, was sie unter anderen Umständen bestimmt getan hätte, streifte Frau Murry ihm den Pyjama

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