Der Riss im Raum
Gesicht. »Wenn ein Echthros menschliche Gestalt annimmt, neigt er dazu, sie zu behalten.«
Meg faßte den Lehrmeister an den steingrauen Falten seines Ärmels. »Die erste Prüfung – wie kam es dazu? Sie haben sie sich doch nicht selbst ausgedacht?! Sie werden den Echthroi doch nicht aufgetragen haben, sich in Jenkinse zu verwandeln?!«
»Meg«, erwiderte er leise, »ich sagte dir doch, daß wir deine Hilfe brauchen.«
»Soll das heißen … soll das heißen, die Echthroi wären auf jeden Fall gekommen, so oder so, und hätten sich als Herr Jenkins ausgegeben, selbst wenn ich … ?«
»Herr Jenkins bietet die idealen Voraussetzungen für ihre Zwecke.«
Noch etwas wackelig auf den Beinen trottete Jenkins auf Blajeny zu und stammelte: »Jetzt hören Sie einmal zu, Herr … , Herr … Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind – und will es auch gar nicht wissen —, aber ich verlange eine Erklärung.«
Wieder klang Blajenys Stimme wie ein Cello. »In Ihrer heutigen Zeit und Welt bezeichnet man ein solches Phänomen wahrscheinlich als Schizophrenie. Ich ziehe den veralteten Begriff der Besessenheit vor.«
»Schizo… – Herr, sollten Sie wagen, meinen Geisteszustand in Frage zu stellen … «
Louise mahnte mit warnendem Zischen zur Eile.
»Herr Jenkins«, sagte Blajeny ruhig, »wir müssen gehen. Entweder kehren Sie jetzt in Ihre Schule zurück oder Sie schließen sich uns an. Treffen Sie Ihre Entscheidung.«
Zu ihrer eigenen Überraschung bettelte Meg: »Ach, Herr Jenkins, kommen Sie doch bitte mit!«
»Aber meine Verpflichtungen … «
»Sie wissen sehr gut, daß Sie nach alldem, was geschehen ist, nicht einfach da drinnen weitermachen können.«
Herr Jenkins stöhnte. Sein graues Gesicht lief fahlgrün an.
»Wer einem Cherubim und Blajeny begegnet ist … «
»Einem Cheru…«
Louise zischte ungeduldig.
»Kommen Sie jetzt mit oder nicht?« fragte Blajeny beharrlich.
»Margaret hat mich benannt«, erwiderte Herr Jenkins leise. »Ja, ich komme.«
Proginoskes breitete eine seiner großen Schwingen aus und hüllte Meg darin ein. Sie fühlte seinen lauten Herzschlag: ein Dröhnen und Vibrieren, wie von einem schweren chinesischen Gong. Dann stand sie vor dem Katzenauge. Es öffnete sich, wurde weit, ließ sie ein …
Sie ging hindurch.
Ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Sie befand sich nicht weiter von daheim weg als beim Ausguck zu den Sternen.
War es wirklich dieselbe Steinplatte auf der oberen Wiese?
Meg blinzelte, und als sie die Augen wieder öffnete, waren Herr Jenkins und Blajeny da – und Calvin. (»Danke, Blajeny!« dachte sie.) Er hielt ihr die Hand entgegen und begrüßte sie mit seinem warmen, strahlenden Lächeln.
Es war nicht mehr herbstlich kühl. Eine leichte, warme Brise wehte. Die Luft war erfüllt vom Gezirpe der Grillen und dem Summen der Mücken. Frösche übten ihre sentimentalen Gesänge. Der Himmel war dicht gesprenkelt mit sommerhellen Sternen.
Blajeny setzte sich auf die Steinplatte, kreuzte die Beine und forderte die kleine Schar auf, seinem Beispiel zu folgen. Meg nahm ihm gegenüber Platz; Louise ringelte sich zu Proginoskes und ließ ihren Kopf auf einem seiner ausgestreckten Flügel ruhen. Calvin setzte sich zu Meg. Nur Herr Jenkins blieb stehen, fühlte sich unbehaglich und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere.
Meg rückte näher an Calvin heran. Als sie aufblickte, stockte ihr der Atem: Die Sterne waren zum Greifen nahe, leuchteten wie Gänseblümchen auf einer Sommerwiese, zeigten aber nicht die ihr vertrauten Konstellationen, die sie aus vielen gemeinsamen Beobachtungen kannte. Sie waren so fremd wie die Sternbilder über dem Berggipfel, auf dem Proginoskes ihr das schreckliche Wüten der Echthroi gezeigt hatte.
»Blajeny, wo sind wir?« fragte Calvin.
»Das ist Metron Ariston.«
»Was ist das? Ein Planet?«
»Nein. Es ist eine Idee, eine Vorstellung, ein Postulat. Es fällt mir leichter, euch in meiner eigenen Galaxis ein solches Bild zu schaffen. Wir befinden uns jetzt in der Milchstraße Venganuel, in unmittelbarer Nähe des Sonnensystems Mondrion. Diese Sterne kenne ich; so stehen sie auch über meinem Heimatplaneten.«
»Warum sind wir hier?«
»Das Postulat Metron Ariston schafft die Voraussetzung, Größenordnungen zu relativieren. Auf Metron Ariston könnt ihr nach Bedarf dimensioniert werden – um mit einem gigantischen Stern zu sprechen oder einer mikroskopisch kleinen Farandola.«
Meg erschrak vor ungläubigem Staunen.
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