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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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über.
    »Mir ist so kalt, Mutter.«
    Sie zog ihm die Decke bis unter das Kinn. »Ich bringe dir gleich eine wärmere Decke.«
    Polternde Schritte auf der Treppe verrieten die Ankunft der Zwillinge. Schon stürmten sie ins Zimmer.
    »Was ist los? Was ist geschehen?«
    »Ist Charles krank?«
    »Er fühlt sich nicht besonders gut«, sagte Frau Murry leise.
    »Ist es so schlimm, daß er ins Bett muß?«
    »Oder hat er wieder einmal in der Schule Stunk gehabt?«
    »Im Gegenteil. Er hat Louise mitgenommen, und sie sorgte offenbar für einiges Aufsehen.«
    »Unsere Louise?«
    »Louise die Große?«
    »Ja.«
    »Prima, Charles!«
    »Das wird ihnen das Maul gestopft haben!«
    Charles Wallace mühte sich ein fröhliches Grinsen ab.
    »Sandy«, sagte Frau Murry, »bring Holz für ein Feuer; es ist ein wenig kühl hier drinnen. Und du, Dennys, könntest aus dem Schrank eine warme Decke holen.«
    »Wird gemacht.«
    »Und Meg wird dir etwas Schönes vorlesen, Charles, sobald sie kommt.«
    Meg meinte, Charles Wallace noch einmal sagen zu hören: »Sie ist nicht in der Schu…« – aber da zog sich ein Schleier vor das Bild; das Zimmer verschwamm und verschwand; und Meg fand sich wieder an der Seite des Cherubim, der sie fest mit einem Flügel umfangen hielt.
    »Und jetzt, meine Kinder«, sagte Blajeny, »wollen wir den Unterricht fortsetzen. Stellen wir uns vor, es sei Tag. Das könnt ihr, glaubt mir. Es gehört einige Übung dazu, sich etwas ganz fest vorzustellen, aber ihr beide, Meg und Calvin, seid jung genug, um euch eure Phantasie bewahrt zu haben. Ihr müßt das Bild allerdings auch für Herrn Jenkins heraufbeschwören. Angesichts des Ernstes unserer Lage mag euch diese Aufgabe vielleicht lächerlich und bedeutungslos scheinen, aber sie ist eine gute Übung für das, was uns bevorsteht. Und jetzt an die Arbeit! Tut so, als ob. Macht die Nacht zum Tag.«
    Der Cherubim zog seinen Flügel ein. Meg faßte Blajeny an der Hand. Ihre verschwand beinahe in der seinen; so klein hatte sie sich früher in der Hand ihres Vaters angefühlt, wenn Meg in grenzenloser Liebe und absolutem Vertrauen bei ihm Halt suchte. So blickte sie jetzt zu Blajeny auf, schaute in seine ernsten, bernsteinfarbenen Augen, in denen sich manchmal das kalte Licht des Mondes zu sammeln schien, die jetzt aber das warme Licht der Sonne ausstrahlten.
    Auf einmal wurde der unendliche, nur aus Vorstellung bestehende Himmel über Metron Ariston von hellen Farben durchflutet; ein herrlicher blauer Bogen spannte sich wolkenlos über das Firmament und schimmerte sonnenwarm. Rings um die Steinplatte wiegte sich frisches Gras im lauen Wind. Ein Vogel begann zu singen; ein zweiter stimmte ein; ein dritter; andere folgten; und schon war überall Gesang, war überall Musik. Im Gras sprangen Blumenpunkte auf: Maßliebchen, schwarzäugiger Hibiskus, scharlachrote Kastillea, lila Disteln – Pflanzen aller Art, in Hülle und Fülle.
    Die Farben leuchteten ungewöhnlich hell. Calvins rotblondes Haar brannte geradezu in der Sonne. Seine Sommersprossen wirkten größer und fielen stärker auf als sonst. Das ausgeblichene Blau seiner Jacke war so kräftig und dunkel wie seine enzianblauen Augen. Einer seiner Socken war knallrot, der andere purpurlila.
    Megs alter Schottenrock, dem das häufige Waschen nicht gerade gutgetan hatte, sah aus wie neu. Nur ihr Haar war bestimmt stumpf und mausbraun geblieben. Auch Herr Jenkins machte einen unverändert farblosen und blassen Eindruck. Louise die Große hingegen schien an Länge zugenommen zu haben, und ihre Schuppenhaut glänzte in dunklem Rotgold.
    Und Proginoskes? Vom Cherubim ging ein so starkes strahlendes Licht aus, daß Meg davon geblendet wurde und die Augen abwenden mußte.
    »Und nun, meine Kinder«, sagte Blajeny und bezog Herrn Jenkins ohne weiteres in diese Anrede ein, »wollen wir den letzten Teilnehmer unserer Klasse willkommen heißen.«
    Hinter dem kleineren der beiden Urgesteinsfelsen tauchte eine zierliche Gestalt auf und trippelte ihnen entgegen. Auf den ersten Blick ähnelte das Wesen einer silberblauen Maus; doch hatte Meg den Eindruck, daß es eher im Wasser als auf festem Land beheimatet war. Seine Ohren waren groß und pelzig und liefen an den spitzen Enden zu lavendelfarbenen Fransen aus, die behaglich im leichten Wind schaukelten – wie Unterwasserpflanzen in einer Meeresströmung. Auch seine Schnurrhaare waren ungewöhnlich lang; die großen, milchigen Augen zeigten weder eine Pupille, noch eine Iris, wirkten

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