Der Riss im Raum
Reize reagieren; und er hatte beschlossen, die Stärke dieser Reaktionen zu messen, indem er eine Anzahl von Elektroden – wie sie etwa bei Lügendetektoren angewendet werden – an den Blättern eines großen, kräftigen Philodendron befestigte.
Hier fehlte ein Teil des Papierbogens, und Calvin verlor mehrere Sätze des Berichts, ehe er ihn weiterverfolgen konnte, mitten in der Erläuterung, wie man die Herztätigkeit als Elektrokardiogramm und die Gehirnströme als Elektro-Enzephalogramm graphisch aufzuzeichnen vermag. Eine solche Apparatur, bei der ein Stift Linien auf einen Papierstreifen schreibt, setzte auch der zuvor erwähnte Biologe ein.
Er verbrachte zunächst einen ganzen Vormittag damit, die regelmäßige Linie zu betrachten, die der Schreibstift auf das Papier zeichnete. Nichts Besonderes geschah. Keine Reaktion.
Da überlegte der Biologe: »Ich muß die Pflanze irgendwie zum Reagieren bringen. Ich werde eines ihrer Blätter verbrennen.«
Noch im selben Augenblick schlug der Stift wild aus und zeichnete eine erregte Zackenkurve auf den Papierstreifen, aus der hervorging, daß …
Weiter konnte Calvin nicht lesen, da der Rest der Zeitungsseite fehlte.
Meg verstand ganz deutlich, was Herr Jenkins ihr, immer noch ein wenig irritiert, zudachte: »Ja, ich habe den Artikel seinerzeit gelesen. Ich hielt ihn für blanken Unsinn. Hirngespinste eines Verrückten.«
Calvin kythete: »Die meisten wissenschaftlichen Entdeckungen stammen von Verrückten – oder zumindest von Menschen, die als verrückt galten.«
»Meine Eltern hielt man auch für Spinner«, bekräftigte Meg. »Bis sich einige ihrer Theorien beweisen ließen.«
»Aber jetzt paßt auf!« fuhr Calvin fort. »Es geht noch weiter. Zu einem späteren Zeitpunkt berichtete die Zeitung erneut von den Experimenten, und wie es der Zufall wollte, war auch ein Teil dieser Ausgabe in meinen Besitz gelangt.«
In der Fortsetzung wurde berichtet, daß der Wissenschaftler eine Vortragsreise antreten mußte, die ihn durchs ganze Land führte. Er gab einem seiner Studenten den Auftrag, den Philodendron indessen zu pflegen, zu beobachten und jede seiner Reaktionen exakt zu protokollieren.
Jedesmal, wenn das Flugzeug mit dem Biologen an Bord startete oder landete, begann der Schreibstift nervös zu zucken.
Meg fragte: »Woher wußte die Pflanze, daß … ?«
»Sie wußte es.«
»Aber auf diese Entfernung!« protestierte Meg. »Wie sollte eine Pflanze, ein ganz gewöhnlicher Philodendron, wissen, was Hunderte Kilometer weiter geschah?«
»Und sich darüber Sorgen machen«, ließ sich Herr Jenkins sarkastisch vernehmen.
»Entfernungen spielen offenbar ebensowenig eine Rolle wie Größe oder Zeit. Was allerdings die Sorge oder Anteilnahme betrifft, entzieht sich den beweisbaren Fakten.«
Jedenfalls wählte Calvin daraufhin für sein Projekt eine Variation der Theorie über pflanzliche Reaktionen. Da er über keine Meßgeräte verfügte, beschränkte er sich darauf, drei Bohnensamen einzutopfen.
Herr Jenkins hielt das für nicht besonders originell.
»Abwarten!« kythete Meg ihm zu. »Calvin hatte sich das immerhin ganz allein ausgedacht. Bedenken Sie, er war damals erst neun Jahre alt.«
Calvin setzte einen Samen in einen Topf, den er daheim in der Küche auf die Fensterbank stellte, wo er Licht und Sonne hatte und täglich gegossen werden konnte. Er verbot seinen Geschwistern, den Samentopf auch nur anzurühren, und drohte ihnen, daß es sonst Prügel setzen würde. Sie wußten, daß er das ernst meinte, und gingen dem Pflänzchen buchstäblich aus dem Weg. Nichtsdestoweniger bekam der Bohnentrieb alles zu hören, was in der Küche geschah.
»Ohne Ohren?« kythete Herr Jenkins mürrisch.
»Vielleicht so, wie Louise?« gab Meg zu bedenken.
Die Pflanze hörte das ganze häßliche Gerede und Fluchen, das in Calvins Familie gang und gäbe war. Er selbst hielt sich nach Möglichkeit für die Zeit des Experiments dem Haus fern.
Die beiden anderen Samentöpfe brachte Calvin in die Bücherei, wo der Bibliothekar ihm gestattete, sie vor zwei Fenster in die Sonne zu stellen. Der zweiten Bohne gab er regelmäßig und ausreichend Wasser, kümmerte sich aber nicht weiter um sie. Der dritten Bohne jedoch redete er gut zu und ermunterte sie zu wachsen. Als sich die ersten grünen Sprossen zeigten, bedachte er sie mit all der Liebe, die er bei sich daheim keinem schenken konnte. Nach der Schule ging er gleich in die Bücherei, setzte sich zu seiner Pflanze, machte
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