Der Riss
auch alleine machen können.“
„Ich helfe doch gern.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Schlummerpartys sind nicht besonders komisch, wenn deine Gastgeberin erstarrt ist.“ Jessica sah ihm in die Augen. „Außerdem hasse ich Nächte, in denen ich nicht zum Fliegen kommen.“
Er streckte ihr lächelnd die Hand hin. „Dann lass uns fliegen.“
„Einverstanden.“ Sie nahm die Hand, spürte, wie sich die Verbindung festigte und ihr Körper leicht wie Luft wurde. „Bis morgen, Dess.“
Dess, die an der offenen Eingangstür gestohlene Waren stapelte, sah auf. „Bis dann, Jess. Und Flyboy: Wenn du bis Mitternacht nicht wieder hier bist, lasse ich den ganzen Kram hier in deinem Auto und lege eine fette Nachricht für den Sheriff dazu.“
„Keine Sorge, bin gleich wieder da.“
Sie flogen zu Constanza, schossen über ein freies Stück Highway bis zu einer Gruppe großer Häuser, die an einer Ringstraße lagen. Jonathan landete mit Jessica auf dem Dach, direkt bei dem offenen Badezimmerfenster im ersten Stock.
Jessica sah auf ihre Uhr. Jonathan hatte immer noch reichlich Zeit, um zum Laden zurückzufliegen, bevor die Midnight zu Ende ging. „Danke fürs Mitnehmen.“
„Hör mal, ich weiß doch, dass du Constanza heute Nacht sehen musstest. Wo sie doch deine einzige normale Freundin ist.“
Jessica sah zu ihm auf und fragte sich, ob er das ironisch gemeint hatte.
„Das meine ich im Ernst, Jess. Es ist in Ordnung, wenn man jemanden braucht, der kein Midnighter ist.“ Er schluckte und sah verlegen aus. „Außerdem tut es mir leid, dass ich mich nie mit ihr angefreundet habe.“
„Danke.“ Jessica seufzte. „Nach allem, was passieren wird, kommt sie nicht mehr zurück, oder?“
„Nein, glaube ich nicht. In Los Angeles wird sie aber wenigstens in Sicherheit sein.“
„Stimmt.“ Sie seufzte wieder. „Ich kann Abschiede bloß nicht ausstehen.“ Bevor sie nach Bixby gezogen waren, hatte sie in den letzten drei Monaten in Chicago nichts anderes getan, als sich zu verabschieden. Und jetzt würde sie anscheinend schon wieder alles verlieren.
Im Badezimmer zog Jessica ihren Schlafanzug wieder an, während sie auf das Ende der Midnight wartete. Als das blaue Licht verschwand, das Haus bebend wieder zum Leben erwachte, drückte sie auf die Toilettenspülung und trat auf den Flur im Obergeschoss.
„Also, wie ich gerade gesagt hatte“, hob Constanza an, als Jessica die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. „Dieses Teil hier kann in Rente gehen, richtig?“
Jessica sah den schwarzen Pullover mit den roten Schulterklappen an. „Stimmt. Viel zu sehr Achtzigerjahre.“
„Igitt.“ Constanza warf ihn auf den Altkleiderhaufen, dann wandte sie sich den drei riesigen Koffern zu, die aufgeklappt am Boden lagen. Sie waren randvoll gestopft mit Kleidern, Blusen, Röcken und mindestens einem Dutzend Schuhen.
„Werden deine Eltern keinen Verdacht schöpfen? Ich meine, du fährst doch angeblich nur für eine Woche weg.“
Constanza prustete. „So viel packe ich immer für eine Woche ein. Du kannst dir nicht vorstellen, was für großartige Sachen ich zurücklasse. Ich denke aber, das reicht jetzt.“
„Wir sind also fertig?“, fragte Jessica hoffnungsvoll. Sie hatten mehr oder weniger den ganzen Tag gepackt.
„Für heute Nacht sind wir fertig.“ Constanza erhob sich und betrachtete das Schlachtfeld in ihrem Zimmer. „Tausend Dank, dass du mir geholfen hast, Jess. Ich hasse packen.“ Sie sah sehnsüchtig in ihre riesigen Schränke. „All diese Klamotten weinen mir nach. So viele muss ich zurücklassen.“
Jessica spürte, dass sie lächelte. Die vergangene Woche war für die Vorbereitungen auf eine Schlacht draufgegangen, die man kaum gewinnen konnte. Es fühlte sich gut an, etwas Konkretes zustande gebracht zu haben, auch etwas so Unwichtiges wie Constanzas Gepäck. Und es war eine Erleichterung, Entscheidungen zu treffen, von denen kein Leben abhing.
„Ich hab dir gern geholfen. Hat Spaß gemacht, auch wenn’s anstrengend war.“
„Ernesto wollte mir helfen, aber er ist schon lange weg.“
Jessica runzelte die Stirn. „Von deinen Verwandten ist keiner mehr hier, oder?“
„Nein. Und selbst wenn, Opa hat sich total angestellt, dass nur ja keiner vor dem Umzug den Boden von Bixby betritt.“
Jessica nickte. So kurz vor Samhain waren nur noch Constanzas bedauernswerte Eltern hier. Ihr Haus lag von Jenks aus am anderen Ende von Bixby, aber trotzdem dort, wo der Riss entlanglaufen würde.
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