Der Riss
vor Dess’ geistigem Auge auf, und einen Moment lang fragte sie sich, ob Melissa es dort platziert hatte. Natürlich, selbst wenn die Gedankenleserin sie manipulierte, das Bild würde in dreizehn Tagen Wirklichkeit werden, wenn sie keine Lösung fanden.
„Die Antwort könnte genau hier auf dich warten, mitten zwischen uns“, sagte Melissa. „Aber diese Finsternis ist bald zu Ende.“
Dess holte tief Luft. Sie wusste, dass sie die Wahl hatte: Entweder stellte sie sich der Berührung durch die Gedankenleserin, oder sie fand sich mit Rex’ unheilvollen Berechnungen ab. Entweder öffnete sie ihr Gedächtnis jetzt, oder sie sah bei dem Schlachtfest zu.
Es war nicht fair, wenn man Menschen zu tausenden retten sollte. Überhaupt nicht fair.
„Mach’s kurz“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und streckte die Hand aus.
Melissa schloss die Augen.
Beim ersten Kontakt mit ihren Fingern drang etwas Massives und Finsteres in Dess hinein. Bilder flossen durch sie hindurch, eine Erde aus Drähten, rotes Feuer lief an den Längen-und Breitengraden entlang. Sie sah die Tage zwischen jetzt und Samhain um Mitternacht, stetig pulsierende Finsternisse, bis die blaue Zeit zersprang und der Riss über tausende von Meilen weiter aufbrach. Sie sah, wie lang er dauern würde, fünfundzwanzig Stunden erstarrte Zeit – Menschen, die im Riss um ihr Leben kämpften, während außerhalb alles erstarrt war und niemand etwas bemerkte.
Dann sah sie, welche Form der Riss wirklich hatte … und die Anfänge einer Lösung.
Dess entzog Melissa ihre Hand, als ihr bewusst wurde, dass sie in der Ferne ein Geräusch hörte. Es war ein leises Prasseln, wie leichter Regen auf einem Metalldach.
Sie wandte sich wortlos ab und lief an den Schienen entlang zu der Stelle, an der der Cadillac den Bahndamm hinaufgeröhrt war. Am rot glühenden Rand des Risses fiel etwas Leichtes wie ein dunkler Vorhang vom Himmel.
Dess streckte die Hand aus …
Staub sammelte sich allmählich auf ihrer Haut. Dann hörte sie ein hartes Ping auf der Schiene aus Metall neben ihr – das heruntergefallene Kieselsteinchen schlitterte an den Schienen entlang.
Sie trat ein paar Schritte zurück und sah nach oben, ihre Augen blieben an einem Fleck auf dem dunklen Mond hängen. Wie die angehaltene Rakete hing Staub und Schotter, die der Cadillac aufgewirbelt hatte, noch über ihnen und schwebten in der erstarrten Zeit. Aber in der Staubwolke fehlte ein langes, ovales Stück …
Dess nickte. Plötzlich ergab das Ganze einen Sinn. Die Reifen des Cadillacs hatten beim Eintreten der Finsternis viele Teilchen aufgewirbelt, die dort oben blitzschnell erstarrten, bis die normale Zeit wieder anfing. Der Staub innerhalb des Risses war jedoch zu Boden gefallen, mit der regulären Schwerkraft.
Jetzt konnte Dess die ganze Sache in drei Dimensionen sehen.
Seine blasenartige Form war aus der Wolke ausgeschnitten, wie ein langes, ovales Stück aus einem Berg.
Warum rieselte dann aber immer noch Staub nach unten?
Dess ging wieder an den Rand, streckte noch einmal ihre Hand aus und erkannte, dass der Staub jetzt an den Schienen entlang etwas weiter hinten fiel.
Natürlich … der Riss wurde größer, zerlegte die blaue Zeit in zwei Hälften. Und während sich seine Ränder nach außen bewegten, fiel mehr schwebender Staub zur Erde.
Dess sah nach oben, ihr Herz schlug schneller. Sie sah tatsächlich zu, wie sich der Riss ausbreitete. Sie spähte in die verschwommene Wolke aus schwebendem Staub, um die exakten Ausmaße erkennen zu können, und verfluchte das schwache blaue Licht. Wenn Rex sich schon auf dramatische Experimente verlegte, warum hatte er dann beim Eintritt der Finsternis keine Wolke aus Tischtennisbällen losgelassen, damit man sehen konnte, was sich wirklich abspielte? Dann hätte Dess berechnen können, wie schnell sich der Riss in der blauen Zeit ausbreitete und in welche Richtung.
Sie stolperte den Bahndamm hinunter bis zum längeren Rand des Risses und streckte die Hand aus. Hier fiel fast kein Staub.
„Dess?“, rief Rex.
„Warte.“ Sie kletterte wieder zu den Schienen hoch. Ja, der Riss breitete sich an der kurzen Seite des Ovals viel schneller aus.
Sie rannte zu den anderen zurück, vorbei an dem Cadillac bis ans andere Ende des Risses. Als sie aufsah, rieselte ihr Staub in die Augen. Auch hier fiel mehr Staub. Aber warum bewegte er sich an den Eisenbahnschienen entlang?
Sie schloss die Augen, um zuzulassen, wie Melissas Wissen in ihr Gestalt
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