Der Ritter von Rosecliff
Waldschnepfen verliehen ihrer Freude über den warmen Tag lautstark Ausdruck, und aus dem Steinbruch jenseits der westlichen Mauern war das übliche Klopfen und Hämmern zu hören.
»Sollen wir auf den Wehrgang steigert?«, schlug Isolde vor. »Von dort aus können wir genau sehen, wie Papa durch, die Stadt und dann am domen vorbei reitet.«
Gavin rannte sofort los, um als Erster am Ziel zu sein, und Gwendolyn trabte auf ihren kurzen Beinchen hinterher. Isolde folgte ihren Geschwistern gemessenen Schrittes - in letzter Zeit wollte sie sich wie eine Dame bewegen. Jasper blickte ihr nach, aber es war Josselyn, die seine Gedanken in Worte fasste.
»Rand will auf seiner Reise auch Ausschau nach einem passenden Ehemann für Isolde halten«, sagte sie bekümmert.
Jasper zuckte mit den Schultern. »Na ja, irgendwann wird sie heiraten müssen. Es kann nichts schaden, sich frühzeitig nach geeigneten Kandidaten umzusehen «
Sie ist doch erst neuen! Ich werde eure gottverfluchten englischen Sitten und Gebräuche nie verstehen.«
Jasper legte ihr grinsend beide Hände auf die Schultern. »Aber unsere englischen Flüche und Schimpfwörter hast du dir mühelos angeeignet. «
Unwillkürlich musste Josselyn lachen. »Ich habe nie, behauptet dass ihr Engländer nur schlechte Angewohnheiten habt. Hätte ich sonst deinen Bruder geheiratet?« Dann wurde sie wieder ernst. »Ich kann einfach den Gedanken nicht ertragen, dass meine Kinder eines nicht allzu fernen Tages Rosecliffe verlassen werden.«
»Gavin wird zurückkehren und später Herr auf Rosecliffe sein. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die beiden Mädchen in dieser Gegend passende Ehemänner finden.«
»Rand sagt, Gwendolyn könnte notfalls auch den Sohn von einem seiner Ritter heiraten. Doch für seine ältere Tochter - seine Erstgeborene - muss es unbedingt ein Mann aus allerhöchsten Kreisen sein. Aber ich werde Isolde nicht zu früh hergeben ... und sie soll auch nicht in weiter Ferne von uns leben.« Seufzend schaute sie zu ihrem Schwager auf. »Meiner Ansicht nach wäre es viel vernünftiger, wenn Rand nach einer geeigneten Braut für seinen kleinen Bruder Ausschau halten würde! «
»Oho! Willst du mich unbedingt los sein?«
»Du weißt genau, wie gern wir alle dich haben. Nichts würde dich daran hindern, mit deiner Frau, hier auf Rosecliffe zu leben.«
»Hast du vergessen, dass ich ein landloser Ritter bin? Wenn ich mich schon für ein ganzes Leben an eine einzige Frau binden soll, müsste sie wenigstens eine reiche Erbin sein.«
Josselyn schüttelte mitleidig den Kopf. »Oh, ihr Engländer! Ich hatte gehofft, dass du jetzt lang genug in Wales lebst um gelernt zu haben, dass man eine Ehe nicht nur aus politischen oder materiellen Gründen schließen sollte. Du bist nicht zufrieden, Jasper, das sehe ich dir an. Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass du keinen Grundbesitz, sondern Liebe brauchst um deinen Seelenfrieden zu finden?«
Liebe? Eine Antwort auf diese schwierige Frage blieb Jasper erspart weil Gavin vom Wehrgang aus schrie: »Ich kann Vater sehen! Er nähert sich dem domen. Ich kann sogar Newlin sehen! «
»Um Himmels willen, Kind, lehn dich nicht so weit hinaus!« Erschrocken beobachtete Josselyn ihren grinsenden, fröhlich winkenden Sohn. »O Gott dieser Lümmel beschert mir jeden Tag ein neues graues Haar!«, stöhnte sie.
»Sobald er in einer Pflegefamilie lebt wirst du dir keine Sorgen mehr um ihn zu machen brauchen.«
Josselyn warf ihrem Schwager einen erbosten Blick zu. »Du hast keine Ahnung von den Gefühlen einer Mutter! Dann werde ich mir erst recht Sorgen machen. Wird er gut ernährt? Wird er vielleicht misshandelt? Hat er Heimweh? Die Trennung von Gavin wird mir das Herz brechen, ebenso wie die Trennung von Isolde, sollte sie wirklich irgendeinen englischen Lord heiraten. Mir wäre es am liebsten, wenn alle meine Kinder ihre Ehepartner auf Rosecliffe fänden - oder in Carreg Du.« Das war ihr knapp zwei Meilen entferntes Heimatdorf. »Und jetzt sollte ich meine Sprösslinge wohl schleunigst holen, bevor sie sich den Hals brechen.«
Jasper schaute ihr bewundernd nach. Josselyn war noch fast genauso schlank und rank wie bei ihrer Hochzeit. Rand hatte eine gute Wahl getroffen, als er eine Waliserin heiratete. Trotzdem wollte er seine Töchter mit Engländern vermählen, wobei politische Erwägungen zweifellos eine wichtige Rolle spielten: das rebellische Wales sollte auf diese Weise enger an das übrige Reich gebunden
Weitere Kostenlose Bücher