Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rollende Galgen

Der rollende Galgen

Titel: Der rollende Galgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
Vom Netzwerk:
ebenfalls allein war. Joseph, der Alte und der Wissende. Einer, der zu ihnen gehörte, vor dem sie jedoch alle Respekt hatten.
    Der Block, in dem sie lebten, war ein alter Kasten. Ein hoher Backsteinbau, eingerahmt von ebenfalls alten Gebäuden, an denen allerdings gearbeitet wurde. Man wollte sie renovieren. Wie es hieß, sollte das Haus der Indianer ebenfalls an die Reihe kommen. Es gab da noch Streitigkeiten zwischen der Stadt und den Besitzern. Joseph hatte sich sehr um Nabila gekümmert und sie über das erste Leid hinweggetröstet. Mit der Zeit hatte das schöne Mädchen Vertrauen zu ihm gefaßt, und es freute sich auf die langen Abende und Nächte, wenn sie mit Joseph zusammen auf der Bank im Innenhof sitzen konnte, um den alten Geschichten zu lauschen, die Joseph erzählte. Er war ein besonderer Mann. Nicht allein von seinem Wissen oder den Fähigkeiten her, auch sein Aussehen trug dazu bei. Das Gesicht mit der braunen Haut wirkte wie Baumrinde. Das lange Leben hatte Kerben hineingeschlagen, so daß die Haut ein regelrechtes Relief bildete. Er war relativ klein, wirkte jedoch größer, weil er stets einen dunklen Topfhut trug und eine Feder in sein graues Haar gebunden hatte. Die Feder ragte aus dem Hut empor; ein Loch war in ihn hineingeschnitten worden.
    Als Kleidung trug er zumeist eine alte Jacke, bei der vorn die meisten Knöpfe nicht mehr vorhanden waren. Seine Hose war an den Seiten ausgestellt und wirkte pumpig. Nur zu hohen Festtagen legte er eine andere Kleidung an und trug auch den Schmuck, den seine Väter und Vorväter ihm vererbt hatten.
    Joseph war ein schweigsamer Mensch. Wenn er mal sprach, waren die Worte und Sätze stets inhaltsschwer.
    ***
    Über New York brütete die Hitze. Die meisten Menschen zog es ins Freie. Auch Joseph machte keine Ausnahme. Er saß im Hof auf seinem Lieblingsplatz, schaute auf die vier Bäume, die er Vorjahren gepflanzt hatte. Trotz aller Unbillden waren sie wunderschön gewachsen. Sie gaben dem tristen Hof so etwas wie eine kleine grüne Lunge. An den Nachbarhäusern wurde nicht mehr gearbeitet. Joseph konnte auf die leeren Stahlgerüste schauen.
    Er saß nicht allein. Kinder spielten in einem Sandkasten oder plantschten im aufblasbaren Pool.
    Die Mütter saßen im Schatten und beobachteten die Kleinen, während ihre Väter noch unterwegs waren.
    Vorabendliches Flair herrschte zwischen den Mauern, aber Joseph wußte, daß diese Stille trügerisch war. Unter der Oberfläche brodelte es. Die Erde sah zwar aus wie immer, doch es gab Dinge, über die man besser nicht sprach.
    Sie waren vorhanden, sie hatten sehr lange in einem tiefen Schlaf gelegen, über Jahrhunderte hinweg, doch nun waren sie geweckt worden. Davor fürchtete Joseph sich.
    Sein Gesicht hatte noch ein paar Furchen mehr bekommen. Die Augen waren zwar nicht trüb geworden, sie hatten jedoch einem sorgenvollen Ausdruck Platz geschaffen.
    In den letzten Nächten hatte er oft wachgelegen und das Rollen der Räder gehört.
    Der alte Galgen war zurückgekehrt. Die Legenden hatten nicht gelogen. Er war wieder da.
    Niemand hatte eine Zeit vorgegeben, aber er würde rollen und ein Instrument der Rache sein.
    Joseph hatte sehr lange über die Rache nachgedacht. Seine Vorväter waren mit dem Gedanken an Rache aufgewachsen. Für sie war es etwas Normales gewesen, doch Joseph dachte mittlerweile anders darüber. Er hatte die Menschen kennengelernt. Er wußte, daß die, die dieser schrecklichen Rache zum Opfer fielen, unschuldig waren. Sie konnten einfach nichts dazu, und das stimmte ihn sehr nachdenklich. Es hatte Tote gegeben. Es gab immer Tote, wenn der alte Galgen rollte. Die Gräber waren nur äußerlich verschüttet. Man hatte diese Stadt gebaut, ohne auf die Ureinwohner des Landes Rücksicht zu nehmen. Man hatte sie geknechtet, sie grausam unterdrückt und sie ausgelacht, wenn sie von den alten Flüchen sprachen.
    Man hatte sie auch geschändet und hilflos sterben lassen. Nun waren sie zurückgekehrt und hatten sich in das Leben der Menschen eingemischt.
    Die Sonne war sehr warm gewesen. Sie hatte die Mauern bestrahlt, die nun, am späten Nachmittag, damit begannen, die Hitze wieder abzugeben. Staub lag in der Luft. Die Kinder hatten ihren Spaß. Wasser spritzte in unzähligen Tropfen hoch, in denen sich das Sonnenlicht brach.
    Die Kleinen waren unbelastet, und die Erwachsenen, von denen einige Bescheid wußten, sprachen nicht darüber. Niemand wollte damit etwas zu tun haben, obwohl in vielen von ihnen das

Weitere Kostenlose Bücher