Der rollende Galgen
Geister. Vom East River stiegen faserige Dunstschwaden in die Höhe. Die Luft drückte. Der Himmel bildete ein Muster aus tiefgrauer und flammendroter Farbe. Rest einer verschwindenden Sonne.
»Was siehst du?« fragte Abe.
»New York.«
Der G-man lachte und schaute auf seine Uhr. »Wie es Suko wohl ergangen sein mag?«
Ich hob die Schultern. »Wenn wir nach unten kommen und ihn nicht dort treffen, werden wir ihn suchen.«
»Auch im Keller?«
»Und ob.«
»Genau.« Abe lachte scharf. »Wäre doch gelacht, wenn wir diese Bude nicht unter Kontrolle bekämen.«
Diesen Optimismus teilte ich nicht, schwieg aber darüber.
»John…«
Nabila hatte meinen Namen gerufen. Ich ging auf die Tür zu und drückte sie auf. Abe Douglas folgte mir. Wir beide sahen auf das Bild. Das Mädchen lag quer über einem Bett. Auf und neben ihr kniete eine mächtige Gestalt, die ein Messer in der Hand hielt, dessen Klinge gegen Nabilas Kehle drückte.
»Sie gehört mir!« keuchte der Mann. »Wenn ihr euch falsch bewegt, ist sie tot!«
Für uns gab es keinen Zweifel, daß Aconagua diese Drohung in die Tat umsetzen würde…
***
Die alte Frau mit den grauen, strähnigen Haaren spitzte die Lippen, als wollte sie Joseph und Suko küssen. Dann drückte sie ihre mageren Hände vor und stemmte die Flächen gegen die Brust des Indianers.
»Joseph, bitte, geh nicht…«
»Laß mich, Shira.«
»Nein, bleib. Du weißt, daß wir beide in diesem verdammten Haus zusammen alt geworden sind. Wir sind die ältesten. Ich weiß, wo du mit diesem Mann hin willst. Aberdu kannst sie nicht stoppen. Die Toten wollen Rache nehmen, sie haben Rache genommen, das muß dir doch klar sein, Joseph. Du kennst die alten Schwüre und Versprechungen. Bitte, halte dich zurück. Versuche nicht mit deinen schwachen Kräften Dinge aufzuhalten, die dich überrollen können.«
Joseph ließ sich nicht beirren. »Ich weiß, daß du es gut meinst, Shira. Nur habe ich den Weg einmal eingeschritten und werde ihn auch zu Ende gehen.«
»Nein!«
»Dann bleibe bitte hier. Tu dir selbst den Gefallen, ich bitte dich darum.«
Er winkte ab. »Ich habe mich einmal entschlossen und kann nicht zurück. Das Morden muß ein Ende haben, verstehst du? Es haben bereits zu viele Menschen ihr Leben lassen müssen, die mit all den Dingen überhaupt nichts zu tun hatten.«
»Das weiß ich. Willst du es denn stoppen? Ausgerechnet du?«
»Nicht ich allein, auch Suko.«
Die alte Frau schaute den Inspektor an. Sehr lange sogar, dann nickte sie ihm zu. »Ich kenne dich nicht, Suko, und doch kenne ich dich. Du hast gute Augen, in ihnen lese ich keine Falschheit. Du meinst es ehrlich, aber es sind leider die Ehrlichen, die immer zuerst sterben. An diese Wahrheit solltet ihr denken.« Die Augen der alten Frau nahmen einen traurigen, fast verzweifelten Ausdruck an. Dabei hob sie die Schultern, murmelte irgend etwas und ging.
»Sie hat es gut gemeint«, sagte Joseph.
»Hat sie auch recht gehabt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du kennst den Keller und den Ort genau?«
»Sonst hätte ich dich nicht mitgenommen.«
»Bist du öfter dort?«
»Nein, auf keinen Fall. Das leiste ich mir nicht. Es ist eine verfluchte Stelle. Alle, die hier wohnen, wissen es. Nur traut sich niemand hinein in den Keller.«
»Hat man ihn abgeschlossen?«
»Das ist nicht nötig. Komm jetzt, wir wollen keine Zeit verlieren. Außerdem ist es gleich dunkel.«
»Was hat das mit unserem Besuch zu tun?«
»Der Galgen ist stets nur in der Nacht unterwegs!«
»Meinst du, daß wir ihn finden?«
»Ich bin mir nicht sicher, Suko. Nicht in diesem verdammten Haus. Zwischen diesen Mauern weht höchstens sein Geist, der die hier lebenden Menschen beeinflußt.«
Joseph übernahm wieder die Führung. Er und Suko hatten sich von seiner Wohnung in entgegengesetzter Richtung entfernt. Jetzt lernte Suko auch etwas von der Tiefe kennen.
Der lange Flur wirkte wie hineingeschnitten. Ihn durchwehte eine Aura, die Suko irgendwie spürte, aber nicht unter Kontrolle bekam. Sie war da und trotzdem nicht vorhanden. Einfach zu fremd, aber auch warnend und gleichzeitig wissend.
Hinzu kam die Hitze, die an den graugestrichenen Wanden zu kleben schien. Ab und zu passierten sie Türen, ohne allerdings den Kellereingang erreicht zu haben.
Sie mußten um die Ecke. Ein Fenster rechts gestattete Suko noch einen letzten Blick auf den Hof. Dort draußen war es heller als im Innern des Hauses.
Die breite Kellertür knarrte, als Joseph sie
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