Der rollende Galgen
wir hatten ihn auf den Fotografien William Penns gesehen. Die Beschreibung des Mädchens traf haargenau auf ihn zu.
Nabila hatte unser Erstaunen bemerkt und zeigte sich etwas irritiert.
»Habe ich was Falsches getan?«
»Nein, genau das Richtige«, sagte Abe. »Du weißt genau, daß es diesen Mann gibt, daß er hier ist?«
»Ja…« Falten erschienen auf ihrer Stirn, und sie schüttelte den Kopf.
»Was soll das?«
»Der Mann lebt unter euch?«
»So ist es.«
»Er atmet, er ißt, er trinkt, er liebt, erarbeitet…«
»Alles.«
Abe Douglas hob die Schultern und warf mir einen Blick zu. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, John. Hast du schon einen Zombie gesehen, der atmet und…«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
Das konnte ich ihm auch nicht sagen. Ich suchte natürlich nach einer Erklärung, fand keine und kam auf die realen Dinge zu sprechen.
»Aconagua will Joseph an den Kragen?«
»Das habe ich gehört.«
»Wie stehst du zu Joseph?«
»Er ist mein Freund.« Nabila senkte den Blick. »Seit dem Tode meiner Eltern hat er sich um mich gekümmert. Er hat mir den Lebensmut zurückgegeben. Ich… ich kann ihn nicht im Stich lassen. Ich wollte ihn dazu überreden, das Haus zu verlassen. Die Atmosphäre ist schlimm geworden. Ein jeder spürt es, aber keiner wagt, offen darüber zu reden. Ich weiß, daß der Tod bereits seinen Schatten in die Flure geworfen hat. Es wird Zeit, daß Joseph geht.«
Douglas wechselte das Thema. »Wie gut kennst du Aconagua?«
»Er wohnt hier.«
Der G-man lachte. »Du magst ihn nicht?«
»So ist es.«
»Hat er dir etwas getan?«
»Noch nicht, aber er will mich zur Frau. Er will mich einfach nehmen, wie seine Vorfahren es früher getan haben. Wir leben nicht mehr in Zelten oder im letzten Jahrhundert. Wir sind in New York. Ich habe andere Dinge kennengelernt, ein wenig Freiheit, und Joseph hat mich tatsächlich darin bestärkt.«
»Er ist nicht da«, sagte ich.
»Ja, ja…« Sie war ein wenig verunsichert. »Wo ist er denn hingegangen? Lief er weg?«
»Er wird gleich zurückkehren. Mit einem Freund von uns. Sie gingen in den Keller.«
Ich hatte bei der Antwort das Mädchen nicht aus den Augen gelassen und sah, wie sie erschrak. »In den Keller?« hauchte sie.
»Richtig. Dorthin, wo sich der Friedhof befindet.«
Nabila mußte sich setzen. Der alte Korbstuhl knarrte, als er ihr Gewicht spürte. Sie schaute ins Leere. »O nein«, hauchte sie, »was will er denn dort?«
»Nachschauen«, sage Abe. »Kennst du die Geschichte eigentlich?«
»Jeder kennt sie.«
»Was hältst du davon?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie ist ziemlich grausam, glaube ich. Die meisten von uns wissen Bescheid und haben auch Angst. Die Vergangenheit ist nicht gelöscht worden. Sie weht nach wie vor durch die Mauern dieses Hauses. An gewissen Stellen kann man sie besonders deutlich spüren. Der Keller ist der zentrale Punkt. Ich habe mich nie hineingetraut.«
»Aconagua denn?«
»Ja, John, er schon. Er ist öfter dorthin gegangen, das hat er mir selbst erzählt. Manchmal hat er Nächte dort unten verbracht.«
»Sein Name, Baila, ist besonders interessant. Hieß der Häuptling, der damals aufgehängt wurde, nicht auch Aconagua?«
»Das stimmt wohl.«
Ich warf Abe Douglas einen nachdenklichen Blick zu. Auch der G-man hatte verstanden.
»Was oder womit verdient Aconagua seinen Lebensunterhalt?« fragte der FBI-Mann.
»Er und die meisten Männer hier gehören zu der Truppe, die an den Brücken und Gebäuden arbeiten«, erwiderte die junge Indianerin. »Sie wissen doch, daß für diese Tätigkeiten besondere Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten eingesetzt werden.«
Das war selbst mir bekannt.
»Und Aconagua ist der Vorarbeiter. Er ist der Beste, der King, der Häuptling eben. Was er haben will, nimmt er sich. Er hat eine unglaubliche Macht und Kraft.« Sie schüttelte sich. »Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre sie schon übernatürlich.«
»Das ist gut möglich«, gab ich zu. »Wenn ich daran denke, daß er zahlreiche Stunden im Keller verbracht hat.«
»Das kommt noch hinzu.«
»Was hatten Sie vor?«
»Ich wollte Joseph warnen, aber wenn er nicht da ist…« Sie schaute sich um und hob die schmalen Schultern. »Am liebsten wäre es mir, wenn ich dieses Haus verlassen könnte. Ich will weg. Vielleicht komme ich nie mehr zurück.«
»Das wäre nicht schlecht«, sagte ich. »Haben Sie schon Ihre
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