Der Rosenmord
Bruder Anselm mit der Liturgie begann – wie konnte nur ein über fünfzigjähriger Mann, der mit voller und sogar ungewöhnlich tiefer Stimme sprach, nach Belieben in den oberen Oktaven singen wie ein Chorknabe? –, zählte Jerome die Köpfe der Versammelten, und seine Rachsucht bekam neue Nahrung. Einer fehlte, und dieser eine war Bruder Eluric.
Der gefallene Musterknabe, der doch tatsächlich, was Jerome mit eifersüchtiger Sorge betrachtet hatte, die Gunst des würdevollen und einflußreichen Priors Robert gewonnen hatte.
Dem jungen Bruder würde der Lorbeerkranz vom Kopf gerissen werden! Der Prior ließ sich nie herab, persönlich die Saumseligen zu zählen oder zu suchen, aber er hatte ein offenes Ohr, wenn jemand ihn auf eine solche Pflichtvergessenheit aufmerksam machte.
Die Prim ging zu Ende, und die Brüder wanderten über die Nachttreppe zurück, um sich für das Frühstück und den Tag vorzubereiten. Jerome trödelte herum, bis er sich vertraulich neben Prior Robert schieben konnte, um ihm mit selbstgerechter Mißbilligung ins Ohr zu flüstern: »Vater, wir haben heute morgen einen Abtrünnigen. Bruder Eluric war nicht in der Kirche. Er ist auch nicht in seiner Zelle. Dort ist alles in Ordnung, und ich glaubte zuerst, er sei vor uns in die Kirche gegangen. Nun weiß ich aber nicht, wo er ist und wie er dazu kommt, seine Pflichten derart zu vernachlässigen.«
Prior Robert blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wie eigenartig! Ausgerechnet er! Habt Ihr in der Marienkapelle nachgesehen? Vielleicht ist er sehr früh aufgestanden, um den Altar zu richten und dann bei einem langen Gebet eingenickt.
Das passiert auch den besten unter uns.«
Aber Bruder Eluric war nicht in der Marienkapelle. Prior Robert eilte sich, den Abt aufzuhalten, der über den großen Hof gerade zu seinen Gemächern zurückging.
»Ehrwürdiger Vater, wir machen uns wegen Bruder Eluric einige Sorgen.«
Dieser Name erregte sofort die volle Aufmerksamkeit des Abtes. Er drehte sich mit gefaßtem Gesicht um. »Bruder Eluric?
Was ist mit ihm?«
»Er hat nicht an der Prim teilgenommen, und er ist nirgendwo zu finden. Wenigstens an keinem Ort, an dem er zu dieser Stunde sein sollte. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, einen Gottesdienst zu versäumen«, fügte der Prior gerechterweise hinzu.
»Nein, wirklich nicht. Er ist eine ergebene Seele.« Der Abt sprach fast abwesend, denn er mußte wieder an die Unterhaltung in seinem Sprechzimmer denken, als dieser schwach gewordene Bruder seine unerlaubte und tapfer bekämpfte Liebe offenbarte. Vielleicht bestand hier ein Zusammenhang. Was, wenn Beichte und Absolution und die Befreiung von der Versuchung nicht ausgereicht hatten? Sonst ein tatkräftiger Mann, zögerte Radulfus und überlegte, was zu tun sei. Sie wurden durch den Pförtner unterbrochen, der mit fliegenden Rockschößen und Ärmeln vom Torhaus herbeigerannt kam.
»Ehrwürdiger Vater, da ist einer am Tor, der Bronzeschmied, der das alte Haus der Witwe Perle gemietet hat, und er sagt, er habe eine schreckliche Nachricht, die nicht warten könne. Er will Euch selbst sprechen und wollte mir nichts sagen -«
»Ich komme«, erwiderte Radulfus sofort. Und zum Prior, der Anstalten machte, ihm zu folgen, sagte er: »Robert, laßt Ihr in den Gärten und im Bauernhof nach Eluric suchen … und berichtet mir nachher, ob Ihr ihn gefunden habt.« Dann ging er mit langen, ausgreifenden Schritten zum Tor, und die Autorität seiner Stimme und der Schwung seines Ganges verbaten es Robert, ihm zu folgen. Hier waren zu viele Fäden miteinander verworren - die Besitzerin des Hauses, das Haus mit dem Rosenstrauch, der Mieter, der bereitwillig jene Pflicht übernommen hatte, vor der Eluric sich fürchtete, Eluric vermißt und draußen jemand mit schrecklichen Neuigkeiten. Ein Webmuster begann aufzutauchen, und die Farben waren düster.
Niall wartete an der Türe des Pförtnerzimmers, das bleiche, grobknochige Gesicht sehr gefaßt und bleich vor Schreck unter dem sommerlichen Braun.
»Ihr wolltet mich sprechen«, begann Radulfus, während er ihn ruhig und abschätzend musterte. »Hier bin ich. Welche Neuigkeiten habt Ihr für mich?«
»Ehrwürdiger Vater«, erklärte Niall, »ich hielt es für das beste, zunächst mit Euch allein zu sprechen und Euch die Entscheidung zu überlassen, wie weiter zu verfahren ist.
Wegen des Regens verbrachte ich die letzte Nacht im Haus meiner Schwester. Ehrwürdiger Vater, Frau Perles Rosenbusch ist zerhackt und
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