Der Rosenmord
diesem Abend jedoch stellte er mit einiger Überraschung fest, daß ein leichter, gleichmäßiger Regen fiel, so still und so sachte, daß sie es im Haus nicht bemerkt hatten.
»Bleib doch über Nacht«, sagte seine Schwester über seine Schulter hinweg. »Du brauchst doch nicht bis auf die Haut durchnäßt zu werden, und bis morgen früh hat der Regen bestimmt aufgehört.«
»Ach, das macht mir nichts aus«, erwiderte Niall. »Es tut ja nicht weh.«
»Aber du hast einen weiten Weg vor dir. Sei doch vernünftig«, rief Cecily ihm zu. »Bleib hier im trockenen Haus.
Wir haben Platz genug, und du weißt, daß du immer willkommen bist. Du wirst morgen schon nicht verschlafen, denn es wird früh hell.«
»Nun schließ schon die Tür«, drängte John, der drinnen am Tisch saß. »Komm herein und iß noch eine Suppe. Besser von innen naß als von außen. Wir haben viel zu selten Zeit, unter uns dreien ungestört zu reden. Die Kinder sind endlich im Bett und schlafen.«
Er hatte recht; mit vier Kindern im Haus, alle lebhaft wie Eichhörnchen, waren die Erwachsenen ständig vollauf mit den Bedürfnissen der Kinder beschäftigt: Spielzeug reparieren, bei Spielen mitmachen, Geschichten erzählen, Lieder singen.
Cecilys Jungen und das Mädchen waren zwischen zehn und sechs Jahren alt, Nialls Tochter war das jüngste Kind und das Nesthäkchen. Jetzt waren alle vier wie ein Wurf junger Welpen auf ihren Heumatratzen im kleinen Speicher zusammengerollt und schliefen fest. Die Erwachsenen am Tisch in der Halle konnten ohne Störung durch die Kinder plaudern.
Es war ein guter Tag für Niall gewesen. Er hatte die neue Schnalle für Judiths Gürtel gegossen, verziert und poliert und war mit seiner Arbeit durchaus zufrieden. Morgen würde sie den Gürtel holen kommen, und er würde sich reich belohnt fühlen, wenn er in ihren Augen einen freudigen Glanz entdecken könnte. In der Zwischenzeit konnte er sich hier gemütlich zur Nacht einrichten, am Morgen zeitig aufstehen und in der reingewaschenen Welt durch das saftige grüne Gras nach Hause gehen.
Er schlief gut und erwachte beim ersten Tageslicht durch den ungestümen Morgengesang der Vögel, der zugleich süß und kreischend war. Cecily war schon aufgestanden und eifrig beschäftigt. Sie hatte Dünnbier und Brot für ihn bereitgestellt.
Sie war jünger als er, schön anzusehen und würdevoll, glücklich mit ihrem Mann und glücklich im Umgang mit Kindern.
Kein Wunder, daß das mutterlose Kind hier aufblühte. Stury wollte nichts für ihre Pflege nehmen. Was macht denn ein kleiner Vogel mehr in einem vollen Nest schon aus, sagte er.
Und wirklich war die Familie gut versorgt, sie hielt Mortimers kleines Anwesen in gutem Zustand, und alles gedieh. Die sauberen Felder warfen schöne Erträge ab, der Wald war gepflegt und die kleine Schonung war mit einem Graben vor gefräßigen Rehen geschützt. Ein guter Ort für Kinder.
Es fiel ihm immer schwer, sich auf den Rückweg zur Stadt zu machen und die Kleine zurückzulassen. Oft besuchte er sie nur aus Angst, sie könnte vergessen, daß sie seine Tochter war, und sich für die Jüngste der Sturys halten, da sie von Geburt an von ihnen bevatert und bemuttert worden war.
Niall machte sich im feucht-und süßduftenden Morgen auf den Weg. Der Regen hatte anscheinend schon vor einigen Stunden aufgehört, denn das Gras funkelte zwar noch, aber die nackte Ackererde hatte die Feuchtigkeit aufgesaugt und trocknete bereits wieder aus. Die ersten langen, schrägen Strahlen der aufgehenden Sonne stachen durch die Bäume und zeichneten Muster aus Licht und Schatten auf den Boden. Der Vogelgesang war jetzt nicht mehr ganz so leidenschaftlich und verlor die kriegerischen Untertöne. Er klang jetzt eher geschäftig, süß und behaglich. Auch hier waren die Nester voller Küken, und die Eltern hatten einen langen, arbeitsreichen Tag vor sich, um sie zu füttern.
Während der ersten Meile ging es durch Waldland, bis sich das Gelände allmählich zu einer mit Büschen und kleinen Hainen bewachsenen Heide öffnete. Dann erreichte er den Weiler Brace Meole, und von dort aus ging es auf einem ausgetretenen Pfad weiter, der sich kurz vor der Stadt zu einem Fahrweg verbreiterte, um mit einer kleinen Brücke den Meole-Bach zu überspannen. Schließlich erreichte er zwischen der Steinbrücke, die zur Stadt führte, und der Mühle und dem Mühlteich am Rande der Abtei die Vorstadt. Er war früh aufgebrochen und rasch gegangen, und die Vorstadt lag noch
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