Der Rosenmord
Ihre klaren, offenen Augen waren dunkelgrau und schienen nichts zu verbergen oder zurückzuhalten. Cadfael hatte ihr vor vier Jahren am Sterbebett ihres Mannes Auge in Auge gegenübergestanden. Sie hatte keineswegs den Blick abgewendet, sondern unverwandt zugesehen, wie das Glück ihres Lebens durch ihre Finger glitt. Zwei Wochen später hatte sie eine Fehlgeburt gehabt und auch noch ihr Kind verloren.
Edred hatte ihr nichts hinterlassen.
Hugh hat recht, dachte Cadfael, indem er sich wieder auf die Liturgie konzentrierte. Sie ist noch jung, sie sollte wieder heiraten.
Es war fast Mittag, und das strahlende Licht des Junitages fiel in langen goldenen Balken auf die Reihen der Brüder und Diener auf der anderen Seite der Kirche. Hier und dort vergoldete es die Hälfte eines Gesichts und ließ die andere Hälfte in tiefem Schatten. Geblendete Augen in bleichen Gesichtern wehrten sich blinzelnd gegen die Helligkeit. Das Gewölbe droben war vom Widerschein in ein weiches, gedämpftes Licht getaucht und ließ die geschwungenen Blätter in der Deckenbemalung wie Reliefs hervortreten. Dort oben im höchsten Punkt der Kirche schienen Musik und Licht eine innige Verbindung einzugehen. Endlich, nach viel zu langem Winterschlaf, hielt der Sommer zögernd seinen Einzug.
Anscheinend war Bruder Cadfael nicht der einzige, der dem Gottesdienst nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Bruder Anselm, der Vorsänger, hatte, in seinen Gesang vertieft, verzückt und mit geschlossenen Augen das Gesicht ins Sonnenlicht gehoben. Er wußte natürlich jede Note auswendig.
Bruder Eluric aber, der Küster des Marienaltars in der Nebenkapelle, schien neben Anselm etwas abwesend. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und blickte zum Gemeindealtar, wo die Gläubigen ihre leise gemurmelten Antworten gaben.
Bruder Eluric war ein Kind des Klosters. Erst vor kurzem hatte er seine Tonsur bekommen, und man hatte ihm diese besondere Aufgabe übertragen, weil er die Ehre zweifellos verdiente. Manch einer hatte zwar Bedenken, Oblaten mit wichtigen Ämtern zu betreuen, ehe sie ein gewisses Alter erreicht hatten. Ein unvernünftiger Vorbehalt, hatte Cadfael stets gedacht, betrachtete man doch die Oblaten als vollkommen unschuldige Geschöpfe, den Engeln gleich, während die conversi, die später ins Kloster eintraten, als kämpfende Heilige galten, die ihre Unvollkommenheiten kennen und beherrschen gelernt hatten. So hatte der heilige Anselm die beiden Gruppen unterschieden und ihnen befohlen, sich nie zu gegenseitigen Vorwürfen und Neidgefühlen hinreißen zu lassen. Dennoch wurden bei wichtigen Ämtern im allgemeinen die conversi bevorzugt; vielleicht, weil sie mit den Täuschungen, Schwierigkeiten und Versuchungen der Außenwelt bereits ihre Erfahrungen gemacht hatten. Die Obhut über einen Altar jedoch, über die Lichter und den Schmuck, durfte zusammen mit den entsprechenden Gebeten sehr wohl den Händen eines Unschuldigen überlassen werden.
Bruder Eluric, inzwischen über zwanzig Jahre alt, ein großer, stattlicher junger Mann mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, war der belesenste und ergebenste seiner Altersgenossen. Mit drei Jahren war er ins Kloster gekommen und wußte nichts über die Außenwelt. Unvertraut mit der Sünde, war er durch sie um so stärker gefährdet, denn für ihn war sie ein unbekanntes Ungeheuer. Er nahm es mit der Beichte sehr genau, zerpflückte seine geringfügigen Verfehlungen und erlegte sich Bußen auf, die für Todsünden angemessen gewesen wären. Seltsam, daß ein so gewissenhafter Junge nicht auf den heiligen Gottesdienst achtgab. Sein Kinn lag auf der Schulter, seine Lippen blieben stumm. Er hatte die Worte des Psalmes vergessen und starrte genau in die Richtung, in die auch Cadfael vor einigen Momenten geblickt hatte. Doch Eluric konnte von seinem Standort aus die Frau besser sehen, grübelte Cadfael – das abgewandte Gesicht, die gefalteten Hände, die Falten des Tuchs über ihrem Busen.
Anscheinend schenkte ihm der Gottesdienst keine Freude. Er schien zu zittern wie ein gespannter Bogen.
Als er sich wieder faßte und den Blick abwandte, geschah es mit einem Ruck, der vom Kopf bis zu den Füßen durch seinen ganzen Körper lief.
So, so! dachte Cadfael, dem endlich ein Licht aufging. In acht Tagen muß er ihr die Rose bringen. Diese Aufgabe hätten sie besser einem gestandenen alten Sünder wie mir übertragen, der sehen und genießen kann, ohne in Versuchung zu geraten.
Nicht aber diesem verletzlichen
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