Der rostende Ruhm
hörte, war entsetzlich.
Wien lebte in einem Zerfleischungstaumel. Baron v. Boltenstern hatte sich öffentlich distanziert. Brigitte Teschendorff war nach Bozen verreist. Ihre Nerven seien völlig gebrochen, sagte Teschendorff. Barnowski wollte auf die Barrikaden gehen und das Volk für Bergh aufrufen.
Die Regierung war schockiert. Noch lagen aus dem Ausland keine Stimmen vor – aber die Wirkung des Artikels auf die Ärzte hatte Czernik soeben erlebt.
Am Abend rief Czernik nochmals bei Teschendorff an. Bergh hatte sich eingeschlossen.
»Das ist doch alles Unsinn!« schrie Czernik in das Telefon. »Wenn Sie gehört hätten, was Bergh hier in München vorgetragen hat! Es war eine medizinische Sensation. Er war in allen Diskussionen unangreifbar. Er wurde gefeiert. Er wird bahnbrechend in der Krebsforschung sein!«
»Das stimmt alles.« Die Stimme Josef Teschendorff's war belegt. »Aber die Wirkung auf die breite Masse ist verheerend. Wir haben seit heute vormittag siebenundzwanzig Abmeldungen bekommen. Und das Telefon steht nicht mehr still. Immer mehr bereits fest angenommene Patienten ziehen sich zurück und gehen in andere Krankenhäuser. Es ist ein Skandal ohne Beispiel!«
Teschendorff hüstelte. Dann sagte er hart:
»Bergh ist für uns gestorben! Er hatte den ganzen Tag Zeit genug, zu dementieren, sich gegen diese Schmierereien zu wehren. Sein Schweigen ist so belastend.«
»Er hat die Nerven verloren!« rief Czernik. »Können Sie das nicht verstehen? Einem so berühmten Mann wirft man Unfähigkeit vor! Das ist ja einmalig in der medizinischen Geschichte! Daß da ein so sensibler Mensch wie Bergh innerlich erst einmal zusammenbricht und Zeit braucht, sich zu fangen, ist doch klar! Bergh wird schon seine Stellungnahme abgeben.«
»Zu spät!« Die Stimme Teschendorffs war hart. »Wer in solchen Situationen versagt, versagt auch am OP-Tisch, wenn es heißt, einen Zwischenfall geistesgegenwärtig zu bereinigen. Wußten Sie von der Sache mit der Gallenblase von Frau Ministerialrat Wollny? War Ihnen bekannt, daß er eine falsche Diagnose abgab und wegen Sarkoms ein Bein amputieren wollte, das lediglich eine Knochenlues hatte? Dr. Thoma rettete den Patienten vor der ›genialen‹ Verstümmelung!«
»Das – das ist doch …«, stotterte Dr. Czernik.
»Ich habe Oberarzt Dr. Werth gefragt. Er wich aus, ebenso Dr. Thoma. Sie stehen vor ihrem Chef – das finde ich großartig. Aber diese Gotentreue hat ihre Grenze, nämlich da, wo es um das Leben der Patienten geht, die bei uns gesund werden, aber nicht zum Krüppel operiert werden wollen! Und erst unter Druck bestätigten die Ärzte der Klinik, daß Bergh – bei allem Respekt vor seinen wissenschaftlichen Leistungen als Theoretiker und Forscher – praktisch am OP-Tisch arbeitend nicht der Chirurg sein kann, den wir als Chefarzt brauchen.«
»Das ist ja schrecklich!« sagte Czernik leise. »Das habe ich ja alles nicht gewußt. Ich werde mit Bergh heute oder spätestens morgen sprechen. Er muß nach Wien zurück – er muß beweisen!«
»Lassen Sie ihn dort, wo er ist!« sagte Teschendorff grob. »Er wird überall eine Stelle finden. Wenn er nach Wien zurückkommt, ist es wie eine Provokation. Wir sind im Augenblick blamiert genug.«
Dr. Czernik ging nach diesem Gespräch in die Hotelbar und trank Whisky. Er wußte nichts anderes zu tun. Einige Ärzte, die vom Festbankett des Chirurgentages zurückkamen, grüßten steif herüber und setzten sich in deutlichem Abstand von Czernik an einen Tisch.
Er wurde geschnitten – Czernik spürte es deutlich. Er zahlte schnell seine Whiskys und verließ die Bar, grußlos und hocherhobenen Hauptes.
Professor Bergh stand am Fenster und starrte hinaus auf die nächtliche Straße und die Lichtreklamen, deren bunter Schein grell über sein Gesicht zuckte. Es war, als brenne dieses schmale, asketische Gesicht und zerfließe in bunten Flammen. Seine Hände, die er auf den Rücken gelegt hatte, waren weiß, blutleer, wie abgestorben. Die Haut lag faltig über dem Handrücken. Hände eines Greises.
Und so, wie seine Hände, sah er ganz aus. Er war in den wenigen Stunden zusammengefallen und ergreist. Gabriele Orth war zutiefst erschrocken und hatte Mühe, es nicht durch einen Aufschrei oder durch das aus ihren Augen blickende Entsetzen zu zeigen, als Bergh ihr nach vielem Betteln endlich die Tür zu seinem Zimmer öffnete und sie hereinließ.
Jetzt saß sie in einem unbequemen Sessel neben einem kleinen wackeligen
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